Wörter und Wendungen, SS 1997, Dr. Wolfgang Näser, Di 16-18 h, HS 207 Biegenstr. 14
hier: Creative writing
Hier finden Sie die Geschichte eines blinden Studenten, dessen herausragende Leistung ausdrücklich gewürdigt werden soll.
Ich kenne meine Pappenheimer
von John ROBINSON, 02.06.1997
Früh an einem kalten regnerischen Montagmorgen öffnete Josef Pappenheimer ein Auge, und sah unsicher herum. Es gefiel ihm nicht, was er sah. Zuerst einmal - wo war er? Dieses Zimmer war ihm gar nicht bekannt, und, obwohl er ehrlich keinen blassen Dunst hatte, was gestern Abend passiert war (bei ihm war wirklich der Bär los gewesen), konnte er mit absoluter Sicherheit sagen, daß er nach der Fete heil nach Hause gekommen war und doch nicht von Außerirdischen oder was auch immer entführt worden war. Dann fiel der Groschen. Es war halb 9. Er befand sich in einem Studentenwohnheim der Universität Kassel, wo er vor einer Woche angekommen war, und heute hatte er sein erstes Seminar in Linguistik (wie aufregend)! Er hatte einen Kopf wie ein Omnibus, aber er stand irgendwie auf, und sah wieder auf die Uhr. Halb 9! Mensch Meier! Die Vorlesung fange kurz nach 9, dachte er, er müsse sich doch beeilen! “Morgenstund ist aller Laster Anfang, und Müßiggang ist Goldes wert”, stöhnte er. Es gab natürlich keine Zeit zum Frühstücken, und zehn Minuten später, nachdem er wahllos einige Bücher und Papiere in seine Tasche gestopft hatte, rannte er zur Bushaltestelle.
Zu seiner Bestürzung verpaßte er den Bus um Haaresbreite. Kaum hatte er die Haltestelle erreicht, fuhr der Bus direkt vor seiner Nase weg - Mist! Es galt, keine Zeit zu verlieren! Er blickte flüchtig um sich, und bemerkte ein Fahrrad, das zufällig in der Nähe abgestellt war. Ohne nachzudenken, grapschte er es sich, sprang darauf und strampelte los wie der Teufel. Auf gut Glück, dachte er, würde er trotz alledem rechtzeitig im Seminargebäude ankommen, aber er müßte wirklich alle Hebel in Bewegung setzen - es war schon 10 vor 9 und er sei noch einen Kilometer vom Gebäude entfernt. Plötzlich hörte er von hinten ein wütendes Schreien und hielt ganz erstaunt an. Ein junger Mann lief die Straße entlang auf ihn zu. “Haltet den Dieb”, schrie er. Josef wartete keinen Augenblick länger. Er sprang wieder aufs Fahrrad und brauste so schnell wie der Blitz davon. Der junge Mann folgte ihm auf den Fersen. Josef hatte Glück. Irgendwie gelang es ihm, seinen Verfolger abzuschütteln, und er stand kurz nach 9 Uhr auf der Matte des Seminargebäudes. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich jetzt ganz nüchtern!
Er trat in den Seminarraum ein, suchte einen Sitzplatz und setzte sich neben eine auffallend schöne Frau, die ungefähr sein Alter zu haben schien. “Sie scheint mir echt schön”, sagte er sich, “alle Räder stehen still, wenn ihr starker Arm es will! Vielleicht können wir uns besser kennenlernen (vielleicht schreibt sie mir ja auch meine Hausarbeiten)!” Er wollte ihr gerade etwas sagen, aber der Professor, der in diesem Augenblick in den Raum kam, war schneller.
“Guten Tag meine Damen und Herren. Ich begrüße Sie zu diesem Proseminar in allgemeiner Linguistik, und gehe davon aus, daß Sie alle das erste Kapitel der Einführungsliteratur gelesen haben. Mein Name ist Herr Fräser, und ich bin Ihr Professor in diesem Kurs ...”.
“Wie dumm kann man sein!”, flüsterte Josef zur Frau links von ihm, “er hört sich an wie 65, tot langweilig und so dumm wie Bohnenstroh!” Sie sagte nichts, aber starrte ihn mißbilligend an. Der Professor sprach weiter:
“Auf der Basis dieses Kapitels, das sie alle hoffentlich schon gelesen und verdaut haben, wer kann mir sagen, was ein Morphem ist? Ja Sie, nach Vorne - ihr Name bitte?”
“Josef Pappenheimer”.
“Und die Antwort, Herr Pappenheimer?”
“Morphin, ist das nicht eine Droge? Haben Drogen wirklich etwas mit Linguistik zu tun? Daran könnte ich mich wohl gewöhnen!”
“Nein, Herr Pappenheimer, fragen Sie doch bitte nicht so dumm! Ich sagte “Morphem” nicht “Morphin”, bitte hören Sie aufmerksamer zu! Und jetzt zum zweiten Mal, Herr Pappenheimer, was ist ein Morphem?”
“Keine Ahnung”.
Der Professor sah ihn ganz ungeduldig an.
“Herr Pappenheimer, ich nehme ja an, daß sie das entsprechende Kapitel schon gelesen haben, und jetzt sollen Sie Ihre Kenntnisse mit uns teilen. Sehen Sie sich bitte die Beispiele auf Seite 15 Ihres Buches an. Beeilen Sie sich!”
Josef überlegte schnell. sein Buch, wo genau war es ? Wo war eigentlich seine Tasche - er konnte sie nicht sehen. Dann erinnerte er sich daran und wurde bleich. Als er an der Bushaltestelle aufs Fahrrad gesprungen war, hatte er vergessen, seine Tasche, die alle seine sieben Sachen enthielt, mitzunehmen! Sie lag vermutlich noch, wo er sie liegengelassen hatte!
“Das gibt’s doch gar nicht!”, stieß er ganz ungläubig hervor. “Herr Professor”, stotterte er schließlich, “ich habe ehrlich das Kapitel gelesen, aber auf dem Weg zur Uni hat jemand meine Tasche geklaut. Ich habe versucht, ihn zu verfolgen, aber er ist mir leider aus den Augen gegangen. ich kann aber sicher ein Buch mit jemandem anders teilen, oder?” Er sah fragend die Frau links von ihm an, aber sie tat, als ob sie das nicht bemerkt hätte. Der Professor war nicht überzeugt.
“Eine schöne Geschichte”, sagte er, “aber jetzt will ich die reine Wahrheit wissen. Herr Pappenheimer, wenn Sie immer Sand ins Getriebe streuen und mir ein Bein stellen, dann werde ich Ihnen aufs Dach steigen, verstehen Sie mich! Also, nach dieser kleinen Unterbrechung, was ist ein Morphem?” Die Frau links von Josef hob eine Hand.
“Ihr Name bitte”, sagte der Professor.
“Ulrike Wagner. Herr Professor, ich verstehe ein Morphem als die kleinste bedeutungstragende Einheit des Wortes. Weiter kann ein Wort nicht segmentiert werden”.
Der Professor starrte sie völlig erstaunt an. “Ausgezeichnet, Frau Wagner”, sagte er, “zumindest haben wir dann eine Studentin in dieser Gruppe, die fleißig und schwer auf Draht ist. Hat jemand Fragen oder andere Meinungen dazu?”
Völlige Stille. “Niemand von Ihnen, das ist ja eine Unverschämtheit! Also, für die nächste Sitzung bitte ich Sie, einen Aufsatz von mindestens 500 Wörtern über die verschiedenen Merkmale und Funktionen des Morphems zu verfassen. Diese Arbeit muß unabhängig vorbereitet und geschrieben werden - bitte merken Sie sich das. Jetzt machen wir Schluß. Bis zur nächsten Sitzung”.
Josef verließ den Seminarraum völlig benommen. Der Tag hatte äußerst schlecht begonnen, und es schien nicht, als ob er sich bessern würde! Erstens mußte er seine Tasche finden, zweitens mußte er das Fahrrad “entsorgen”, und drittens mußte er irgendwie diesen Scheiß-Aufsatz hinwerfen. wie in aller Welt sollte er diese Probleme bewältigen? Während er tief in Gedanken herumging, tippte ihm jemand auf die Schulter. Er drehte sich um, und sah das Gesicht einer Frau, das er erkannte. Es war Ulrike Wagner.
“Hallo”, sagte sie, “Ich heiße Ulrike Wagner. Wir saßen nebeneinander im Linguistikseminar. Erinnerst du dich daran?”
“Ja natürlich!”, antwortete Josef, “wie geht’s dir?”
“Im großen und ganzen ganz gut, aber ich freue mich überhaupt nicht auf diese Hausarbeit, die er uns gegeben hat - sie ist höllisch, oder!”
“Du brauchst dir doch keine Sorgen zu machen!”, sagte Josef, “was soll ich denn erst sagen! Zumindest weiß du, was ein Morphem ist.”
Ulrike brach in Lachen aus. “Es hat bestimmt nichts mit Drogen zu tun, mein Gott, das war geil - ich bin völlig erstaunt, daß er sein Gift nicht verspritzt hat! Aber ich bin wirklich nicht so schlau, wie ich aussehe. Du weißt, daß er am Ende der Sitzung Papiere verteilt hatte? Also, als er vor der Sitzung in den Raum reingekommen ist, ist eins der Blätter zum Boden gefallen, und ich habe das in die Hand genommen. Ich habe seine Definition des Morphems Wort für Wort vorgelesen und er hat anscheinend überhaupt nichts bemerkt”.
“Das ist totaler Wahnsinn”, sagte Josef, “dich kann man mit dieser Masche nicht herumkriegen, aber das beweist meine Hypothese - in Linguistik ist er ein Experte, aber in allem anderen ist er zu dumm zum Milchholen. Übrigens habe ich nichts im Bauch. Wie wäre es, wenn wir zusammen essen gehen?”
Während sie aßen, sprachen sie über andere Themen. “Du hast ja ein modisches Fahrrad”, sagte Ulrike, “Ich habe dich gesehen, als du heute Morgen auf den Campus gefahren bist”. “Oh danke”, sagte Josef, “aber das ist leider nicht mein Fahrrad. Ich habe es gestohlen”. Josef erzählte ihr, was ihm diesen Morgen wirklich passiert war - wie er den Bus verpaßt hatte, wie er das Fahrrad gestohlen hatte, um pünktlich ins Seminargebäude zu kommen, wie er von dem wütenden Mann gejagt worden war, und schließlich, wie er aus Versehen seine Tasche an der Bushaltestelle liegengelassen hatte. “Irgendwie muß ich meine Tasche finden und dieses verdammte Fahrrad loswerden”, sagte er, “Hast du Vorschläge?” Sie guckte verdutzt aus der Wäsche. “Benimmst du dich immer so wie die Axt im Walde?”, scherzte sie, “Also, an deiner Stelle würde ich sofort zur Polizeiwache gehen. Deine Tasche ist wahrscheinlich schon gefunden und abgegeben worden. Was das Fahrrad angeht, behalt es mal - es paßt doch gut zu dir”! Sie war einen Augenblick lang ruhig . “Oh je!”, stöhnte sie schließlich, “ich habe wirklich keine Antenne für so eine Hausarbeit, aber sie brennt mir auf den Nägeln. Wollen wir sie zusammen machen?”
Josef konnte sein Glück nicht glauben. “Das ist ja eine bestechende Idee”, sagte er.
Zwei Stunden später saßen die zwei Studenten in der Universitätsbibliothek, umgeben von Stapeln unverständlicher Bücher. Josef hatte seine Tasche wiedergefunden, und als der Polizist ihn gefragt hatte, ob er vor kurzem ein ganz neues modisch aussehendes Fahrrad gesehen hatte, das früher gestohlen worden war, hatte er mit Bedauern den Kopf geschüttelt. Der junge Mann hatte angeblich eine 100 Mark Belohnung dafür ausgesetzt, aber persönlich, dachte Josef, würde er lieber das Fahrrad haben! Gelegentlich drehte Ulrike eine Seite um oder machte sich rasch einige Notizen. Josef tat, als ob er läse, aber er nahm nichts in sich auf. Er konnte den Blick nicht von der schönen Frau neben ihm abwenden. “Sie ist absolut klasse!”, dachte er. Plötzlich sprach sie. “Josef, verstehst du diesen Paragraph auf Seite 53? Ich habe ihn zigmal gelesen, aber ich kann daraus wirklich nicht klug werden. Übrigens, könntest du mich bitte nicht so anstarren - du hast das heute sehr viel gemacht!”
“Ich auch nicht”, sagte Josef, “aber zum Teufel mit der Hausarbeit - ich interessiere mich sehr viel mehr für dich. Hast du zufällig einen Freund?”
“Was hat das mit dieser Hausarbeit zu tun?”, sagte sie ein bißchen scharf. “also nichts besonders”, antwortete Josef, “aber ich fragte mich ...”. Da unterbrach sie ihn. “Fällst du immer so mit der Tür ins Haus? Ist es das, was du wirklich wissen will? Ist es das, weswegen du mich so viel angestarrt hast?”. Sie verlor fast ihre Fassung. “Ihr Kerle! Ihr seid doch nur auf eine Sache aus! Da du mich fragst, sage ich dir etwas auf den Kopf zu. Ich habe im Moment keinen Freund, ich bin für eine Beziehung noch nicht bereit - ich bin noch grün hinter den Ohren. Wenn ich aber einen Freund finde, werde ich jemanden wählen, der mich wirklich liebt - nicht jemanden, den ich seit weniger als einem Tag kenne, und der offensichtlich keine Ahnung im geringsten von Frauen hat. Da kannst du warten, bis du schwarz wirst!” “Aber ...”, stotterte Josef, “ich wollte nur fragen ... ich meinte nicht ...” “Schluß!”, schrie sie, “du bringst mich wirklich auf die Palme, und ich habe doch bessere Sachen zu tun!” Josef versuchte zu sprechen, aber ihm fehlten die Worte . “Es bringt wirklich nichts! Ich kenne meine Pappenheimer”, sagte sie, als sie den Raum verließ.
Johns Anmerkungen zum Marburg-Text finden Sie hier.
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