Dr. Wolfgang Näser: Wörter und Wendungen in aktuellen deutschen Zeitungstexten * SS 1998

Text 9:

Totes Holz

Wie Hessen seinen Nachwuchs fördert (von Konrad ADAM, FAZ 10. Juli 1998)

Es war der Bundespräsident in Person, der mit seiner Rede im Berliner Hotel Adlon den Versuch unternommen hatte, Bildung und Bildungswesen, wie er sich ausdrückte, zum Megathema der nächsten Zeit zu machen. Viele sind ihm gefolgt, dem Wortlaut nach zumindest. Seit Herzogs Schlüsselrede hageln Schlüsselbegriffe wie Kreativität, Flexibilität und Innovation in einer Dichte über das Land herab, daß es, wenn Reden etwas zu bewirken hätten, die blühenden Landschaften längst geben müßte, von denen der Präsident träumte. Allein die Tatsache, daß der Redeschwall unentwegt anhält, zeigt allerdings, daß wir auf diese schöne Zeit noch etwas warten müssen.

Ein Grund dafür ist der im Bildungswesen dominante Föderalismus. Zentrale Institutionen wie Bonner Ministerien, Berliner Stiftungen und Münchner Forschungsförderungsgesellschaften mögen denken und reden, was sie wollen, gelenkt wird alles durch die Hochschulministerien der Länder. Und die haben ihre eigenen Vorstellungen von dem, was einer Universität zuträglich ist. "Eine Gesellschaft, die sich dem Wissen und der Exzellenz verpflichtet fühlt, muß sich ihres wissenschaftlichen Nachwuchses annehmen": Ernst-Ludwig Winnacker, der neugewählte Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, als ein paar Bundesländer schon deutlich machten, daß sie in die Gegenrichtung rudern wollten. In Hessen wurde den fünf Hochschulen des Landes mitgeteilt, daß es mit der bisherigen Nachwuchsförderung in zwei Jahren mehr oder weniger zu Ende gehen solle. Dem Land fehlt Geld, und weil es beim Bestand nichts mehr zu sparen gibt, spart man beim Nachwuchs. Das ist Waldpflege im Besitzstandsland: Da man die dicken Stämme schonen muß, kupiert man  jedenfalls die jungen Triebe.

Wenn sich die Vorstellungen der hessischen Wissenschaftsministerin Hohmann-Dennhardt durchsetzen, werden die Hochschulen zum Zwecke der Promotionsförderung im nächsten Jahr noch knapp die Hälfte des langjährigen Durchschnitts zur Verfügung haben. Ein weiteres Jahr später, pünktlich zum Anfang des neuen, hoffnungsvollen Jahrtausends, wird diese Summe auf einen kümmerlichen Rest zusammengeschmolzen sein. Diese Aussicht hat den Senat der Universität Marburg dazu gebracht, in aller Offenheit die Frage zu stellen, "ob das Land Hessen eine Promotionsförderung überhaupt noch will". Die Frage ist gar nicht so übertrieben, wie sie klingt, denn das Auslaufen der Graduiertenförderung trifft eine Fächergruppe ganz besonders hart, die Geistes- und die Sozialwissenschaften. Wer zur Standortsicherung nichts Handfestes beitragen kann, gilt als entbehrlich und wird abgewickelt. Der Frankfurter Universitätspräsident Werner Meißner sieht denn auch mehr heraufziehen als einen vorübergehenden Engpaß. Er spricht vom Ende der Individualförderung in Hessen.

Jetzt zeigt die Indulgenz, mit der die Graduiertenkollegs in letzter Zeit gleich dutzendweise gegründet worden sind, ihre Kehrseite. Denn jedes dieser Kollegs gruppiert sich um einen thematischen Kern: Das ist ihr Sinn, dazu sind sie geschaffen worden. Sie begünstigen die Gruppenbildung und damit jene Art von Wissenschaft, die sich am besten kollektiv betreiben läßt. In diese Klasse gehört Wichtiges und Zukunftsweisendes, keineswegs jedoch alles, was an der Universität Platz haben sollte. Schon deshalb ist es sinnlos, die eine Form der Förderung gegen die andere auszuspielen und das Graduiertenprogramm zu kappen, weil es ja die Kollegs gibt. Völlig zu Recht weist Meißner darauf hin, daß die individuelle Förderung nicht nur allgemein für das Überleben des wissenschaftlichen Nachwuchses bedeutsam sei, sondern für den der sogenannten kleinen Fächer ganz besonders: für all das also, was nicht zur Mode- oder Großforschung gehört.

Die Bildungspolitik scheint damit in eine neue Phase zu treten. Nach der Chancenausgleichsveranstaltung, der Kinderbewahranstalt und dem Animationszentrum für rüstige Senioren wird die Universität jetzt zum Dienstleistungsbetrieb umgebaut, in dem die Produktionspalette, der Ausstoß, die Fristen und die Belegschaftsstärke vorgegeben sind. Daß Bildungspolitik so nicht gedeihen kann, daß sie überhaupt nur unter der Bedingung denkbar ist, daß sich der Staat, je höher die Ansprüche steigen, mit seinen Vorgaben und Eingriffen zurückhält, ist für Behördenmenschen unverständlich. Der Staat braucht nicht alles gutzuheißen oder zu bezahlen, was eine Hochschule von ihm verlangt. Aber er darf sich nicht selbst dazu ermächtigen, in einem Netz von immer feiner gesponnenen Spezialprogrammen nach eigenem Belieben die Mittel zu verteilen. Die Freiheit, dies zu tun, muß er der Universität schon selber überlassen.

AUFGABEN UND ANMERKUNGEN:

  1. Text lesen und unbekannte Wörter und Wendungen klären, ggf. nach Sachgruppen ordnen;
  2. Alphabetische Liste der Wörter und Wendungen (deutsch-deutsch; s. unten) anlegen (siehe auch die
    Gesamt-Wortliste des Kurses)
  3. Zur Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses vgl. meinen Hilfskraft-Text, zur finanziellen Gewichtung
    meine Eurofighter-Anmerkungen.

[HTML-Transkript und Aufgaben: W. NÄSER 31.7.1998]