Dr. Wolfgang Näser: Wörter und Wendungen in der deutschen
Zeitungssprache * SS 2000
Di 16-18, Hörsaal 207, Auditoriengebäude
Biegenstraße 14 (2. Stock)
Text 6:
Jugendliche erleben jeden Tag Gewalt
Junge Täter, niedrige Hemmschwelle
Marburg. Laut Kriminalstatistik sind die Täter bei etwa einem
Drittel aller polizeilich untersuchten Verbrechen im Kreis jünger als
21 Jahre.
von Martin Döringer und Mirjam Wege
"Qualität hat sich verändert": Es wird
nachgetreten
Kriminalstatistik und Einschätzungen von Polizei und
Staatsanwaltschaft
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, gegen die wegen gefährlicher
Körperverletzung ermittelt wird, ist im Landkreis zwar von 215 in 1989
auf 368 im vergangenen Jahr gestiegen. Doch für Werner Tuchbreiter,
Pressesprecher der Polizeidirektion Marburg, heißt das nicht, dass
die Jugendlichen heutzutage generell gewalttätiger sind:
"das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit ist größer geworden,
und das bedeutet, dass mehr Fälle angezeigt werden", begründet
Tuchbreiter seine Einschätzung der gestiegenen Zahlen. "Die Kinder sind
nicht gewalttätiger, es wird besser beobachtet."
Und diese Einschätzung wird durch eine Statistik belegt: Wurde vor 25
Jahren geschätzt, dass nur jede achte Körperverletzung
tatsächlich auch angezeigt wurde, so geht man davon aus, dass sich vor
zwei Jahren jedes vierte Opfer an die Polizei gewandt hat.
"Gewalttaten und Schlägereien hat es immer gegeben", will der
Polizeisprecher das Thema keineswegs bagatellisieren. Früher seien die
Auseianndersetzungen - beim Fußball oder während eines Festes
- eher zwischen den Bewohnern von Orten ausgetragen worden.
Doch für die Polizei sei keineswegs Entwarnung angesagt, so Tuchbreiter.
Und das belegen auch die Zahlen: Die Zahl der bis zu 13-Jährigen, gegen
die wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt wurde, ist in
den vergangenen Jahren gleich geblieben: 1989 waren es neun, zehn Jahre
später ebenfalls. Anders sieht es bei den 14- bis 17-Jährigen aus.
Dort stieg die Zahl der Täter von 18 in 1989 auf 85 in 1998 und 75 im
vergangenen Jahr.
Auch der prozentuale Anteil der bis zu 20-Jährigen unter den
Tatverdächtigen ist gestiegen: von 27,9 Prozent in 1989 auf 35,3 Prozent
im vergangenen Jahr.
Die Gewalt an Schulen ist für den Polizeisprecher ein eigenes Problem. Bei der Aufarbeitung des Themas befinde man sich allerdings an einer Durchbruchsstelle. "Die Schulen beschäftigen sich vermehrt mit dieser Problematik."
Für die Polizei gibt es zwei Problemfelder bei den Gewalttaten: Da sei zum einen die hohe Gewaltbereitschaft von Aus- und Übersiedlern, wenn diese sich als Gruppe attackiert fühlten. Und zum anderen die Jugendlichen, die der rechtsradikalen Szene zuzuordnen sind.
Für Peter Gast, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft in Marburg, ist die Frage nach gestiegener Gewaltbereitschaft nicht mit dem Blick auf die Statistik von einem Jahr aufs andere zu beantworten. "Diese Problematik muss langfristig beobachtet und analysiert werden." Und da ist er der Meinung, eine Entwicklung erkannt zu haben: "Die Qualität der Gewalt hat sich verändert." Es wird schneller und härter zugeschlagen. Und wenn jemand am Boden liegt, koste der Gewinner seine Überlegenheit aus, "es wird noch einmal nachgetreten."
"Mit normalen Methoden nicht aufzudecken"
Polizei-Arbeitsgruppe "Ost" befasst sich mit organisierter
Kriminalität
Seit zwei Jahren beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe der Marburger Polizei mit einem Problemfeld der Gewalt im Landkreis: mit kriminellen Aus- und Übersiedlern.
Unter dem Namen "AG Ost" arbeiten die Kriminal- und Schutzpolizisten aus dem Kreis mit Kollegen aus Korbach, Staatsanwaltschaft und Justiz sowie anderen Behörden eng zusammen, um gegen das teilweise "organisierte Verbrechen" dieser Gruppen vorzugehen.
Den Begriff Russenmafia weisen Roland Fritsch, Leiter der Marburger Kriminalpolizei, und Manfred Glaßl, Leiter der "AG Ost", für diese Gruppen ausdrücklich zurück, weil sie nicht von zentralen Gruppen aus dem Ausland gesteuert werden. Doch eine Organisation der Gruppen haben die Beamten bei ihren Ermittlungen schon festgestellt: "Es gibt eine bandenmäßige Struktur mit Köpfen und Handlangern, aber keine Dachorganisation." Und diese einzelnen Gruppen würden zusammenhalten, wenn es um ethnische Auseinandersetzungen gehe.
Von Ladendiebstahl über Erpressung bis hin zur Nötigung zur Gewalt lauten die Vorwürfe gegen diese Gruppen. "Sie waren drauf und dran, den Rauschgiftmarkt im Landkreis zu übernehmen", beschreiben die beiden Kriminalpolizisten, wie ernst die Situation vor zwei Jahren war. "Mit normalen Methoden waren die Straftaten nicht aufzudecken", nennen die Polizisten einen Grund, warum die "AG Ost" ins Leben gerufen worden ist. Doch neben den eigenen Beobachtungen der kriminellen Szene wäre der Leidensdruck in der Bevölkerung so hoch gewesen, dass etwas passiert sei: Pädagogen und Sozialarbeiter hätten die Polizei um Hilfe gebeten. Die Initialzündung zum Setzen dieses Ermittlungsschwerpunktes sei eine vom Sozialdezernenten des Kreises, Thomas Naumann, einberufene Besprechung über die Problematik gewesen.
Ermittlungserfolge kann die "AG Ost" reichlich aufweisen: Während einer Großaktion im Dezember wurden Tatverdächtige festgenommen (wir berichteten), meist handelt es sich um die Köpfe der Banden. Im Sommer finden die Gerichtsverhandlungen statt. Zudem geht aus der Statistik der AG hervor, dass in einem Jahr rund 500 Starftaten auf das Konto der Banden gehen. Mit der Festnahme der Köpfe habe sich auch die Aussagebereitschaft der anderen geändert. Denn die unter Druck Gesetzten - oft Landsleute - würden jetzt merken, dass Polizei und Justiz gegen Verbrecher wirklich vorgehen. Eine Erfahrung, die sie in ihren Heimatländern nicht gemacht hätten.
Psychologe Pieper: Gewalttätigkeit ist ein männliches
Problem
OP-Interview mit einem Experten
Friebertshausen. OP: Haben Sie eine Zunahme der Gewaltbereitschaft
von Jugendlichen festgestellt?
Pieper: Von Untersuchungen her weiß ich, dass die Gewaltbereitschaft
tatsächlich zugenommen hat. Es ist aber lange nicht so dramatisch, wie
das in der Presse dargestellt wird. Mehr Sorge bereitet mir, dass sich die
Qualität von Gewalt verändert hat. Die ausgeübte Gewalt geht
weiter und Fairnessgrenzen werden überschritten. Nehmen wir nur einmal
die einfachen Schulrangeleien: Da reicht es nicht mehr aus, wenn einer am
Boden liegt. Hier wird häufig weiter geschlagen. Die Brutalität
ist wirklich gestiegen.
OP: Wie erklären Sie sich die neue Art der
Brutalität?
Pieper: Kinder und Jugendliche sind ein Abbild unserer Gesellschaft,
die wesentlich rücksichtsloser geworden ist. Ein eindeutiger Zusammenhang
besteht zwischen dem Konsumieren von Gewalt zum Beispiel übers Fernsehen
und dem Ausüben von Gewalt. Ein Gewöhnungseffekt entsteht,
denn es genügt heute nicht mehr, wenn Blut fließt. In Filmen wird
vorgeführt, wie nach einem Schuss Gehirnmasse wegspritzt und das
möglichst in Zeitlupe.
Härte und soziale Kälte bestimmen den
Existenzkampf
Marburger Professor
Benno Hafeneger zu den gesellschaftlichen Hintergründen
der Gewalttätigkeit von Jugendlichen
Nach Ansicht von Professor Benno Hafeneger, Erziehungswissenschaftler an der Philipps-Universität Marburg, neigen Jugendliche zur Gewalttätigkeit, wenn sie sich als Verlierer fühlen und aus dem gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt werden.
"In ihrem Lebensumfeld - sei es in der Schule, in der Familie oder in der Gesellschaft allgemein - lernen Jugendliche die Gewalt als Strategie zur Durchsetzung von Interessen kennen", begründet der Experte seine Meinung. Konkurrenz, Härte und soziale Kälte bestimmen den Existenzkampf. Wie schlage ich mich durchs Leben? Auf diese Frage fänden Jugendliche in der Alltagswirklichkeit die Antwort, dass sie stark sein und für ihre Interessen kämpfen müssen. Gewalt in dieser Form erweise sich als ein an erkanntes und erlebtes Muster der Sozialisation, also als eine Grundbedingung des Heranwachsens. Ebenso erlebten Kinder und Jugendliche häufig in ihren Familien soziale Kälte. Nicht unterschätzt werden dürfe der Einfluss der Medien. Da viele Gewaltszenen über den Bildschirm laufen, wird der Eindruck verstärkt, die Gewalt als alltäglich hinzunehmen.
Als weiteres Argument führt Hafeneger an, dass gerade beim Übergang vom Kindes- zum Jugendalter junge Männer dazu neigen, ihre körperlichen Kräfte mit Gleichaltrigen zu messen: "Das war schon in früheren Zeiten so, denn bei fast jeder Kirmes kam es zu Schlägereien zwischen den Burschen von Dörfern und Ortschaften."
Historisch betrachtet, ist die Jugendgewalt ein "zyklisches Phänomen", das im Laufe des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Varianten immer wieder auftrat. "Erinnern wir uns an die Halbstarken-Krawalle der 50er Jahre, an die Rocker oder die Häuserbesetzer der 80er Jahre, dann wird deutlich, dass die Debatte um das Thema "Jugend und Gewalt" nichts Erstmaliges ist", sagte der Professor.
Für junge Leute, die keine berufliche und soziale Perspektive hätten, gehöre Gewalt meist zur Alltagskultur. In der Fachsprache werden diese als "Modernisierungsverlierer" bezeichnet. "Gewalttätigkeit ist ein typisches Phänomen von Jugendlichen aus unteren sozialen Schichten, die nicht in das gesellschaftliche Leben integriert sind und für die körperliche Gewalt als letztes Mittel erscheint, um aus Kontrollverlust und Handlungsohnmacht herauszukommen."
Eine Lösung der Gewalt-Problematik sieht der Wissenschaftler darin, den Jugendlichen Entwicklungschancen zu bieten und die in die soziale Gemeinschaft aufzunehmen: "Jugendliche brauchen Zukunftsperspektiven, das heißt in erster Linie einen Beruf."
Text: Oberhessische Presse Marburg, 18.5.2000
Kritisches zu Inhalt und Stil
Grundsätzlich ist zu fragen, ob Journalisten ein derart brisantes Schwerpunkt-Thema auf so engem Raum erschöpfend behandeln können - und ob das in diesem Fall überhaupt erwünscht war. Hier jedenfalls wird einiges nur oberflächlich gestreift, anderes ganz weggelassen. Auf knappem Raum mußte Text zurückstehen vor Autorenbildern und einer - als Statistik per se angreifbaren - Grafik.
Die auf Sachlichkeit getrimmten Texte wirken distanziert. Viele Aspekte der Gewalt werden angesprochen, doch könnten die Zitate den Eindruck erwecken, daß die Verantwortlichen mindestens teilweise nicht so recht wissen, was zu tun ist bzw. wohin die Reise geht. Widersprüchliche Ansichten und der wieder einmal deutliche Trend zum psychologisierenden Wegentschuldigen sind dazu angetan, die von der deutlich wachsenden Gewaltbereitschaft und Kriminalität ausgehende Gefahr zu verharmlosen. Gewalt-Opfer aus den erwähnten Orten und Stadtteilen kommen nicht zu Wort: sie hätten vermutlich viel zu erzählen, was in den pseudo-akademischen Rahmen dieses Textes nicht passen würde. So wirkt der Bericht etwas halbherzig, wird zur journalistischen Pflichtübung.
Die Texte enthalten viele Substantivierungen, von denen einige sicher vermeidbar sind. Außerdem wurde dort, wo es nötig und sinnvoll ist, die indirekte Rede nicht immer korrekt angewandt. Einer der Autoren verbindet mehrmals ein Aussageverb mit zwei verschiedenartigen Objekten (1= direkte Rede, 2= indirekte Rede bzw. Attributsatz), was ich so bislang in keinem Zeitungstext gefunden habe.
Mirjam WEGE schreibt flüssig und gut: man liest gern
weiter; was den Inhalt angeht, so kann man es der Autorin nicht anlasten,
daß auch hier ein Professor den Eindruck hinterläßt, sich
hinter Argumenten vor der Wirklichkeit zu verstecken: den vielen traumatisierten
Gewaltopfern nützt es wenig, wenn das, was ihnen angetan ist, mal wieder
mit Theorien entschuldigt wird. Wo es ihm genehm ist, flüchtet sich
Hafeneger in die Vergangenheit, sagt aber nicht, daß es gerade
nach dem Zweiten Weltkrieg, als Deutschland in Trümmern lag und der
Kampf uns Überleben wirklich hart war, keine Gewaltszene gab wie heute,
wo vieles zu Problemen wird, die durchaus vermeidbar wären. Begriffe
wie Disziplin, soziale Verantwortung, Gemeinsinn,
Rücksichtnahme, Solidarität, tätige Reue,
überhaupt das Wort Erziehung sucht man vergebens: vielleicht
sind sie zu unbequem. Daß an deutschen Schulen immer häufiger
Schußwaffen auftauchen, daß 15- oder 16jährige Schüler
Gewaltverbrechen verübt oder geplant haben und daß von "harmlos
und unauffällig" wirkenden Jugendlichen, die damit "berühmt" werden
wollten, sogar Lehrer ermordet wurden, übergeht der Professor; ebenso
unwichtig (oder inopportun?) erscheint ihm wohl auch die seinerzeit in der
DDR praktizierte Möglichkeit, den Jugendlichen mit "Subbotniks", also
freiwilliger Arbeit an gemeinnützigen Objekten, Ziele zu setzen, sie
damit von der Straße zu holen und ganz nebenbei potentiell
zerstörerische Energie positiv umzusetzen. Ich denke, von öffentlichen
Amtsträgern wäre zu Recht mehr Einsatz und Engagement zu
erwarten.
Georg Pieper, Hafenegers Gegenpart und ein Mann der Praxis, sagt deutlichere
Worte; ihm merkt man an, daß er sich engagiert; es wäre zu
wünschen, daß seine Worte Gehör finden: auch in abgehobenen
akademischen Kreisen und in den Programmbeiräten der vielen TV-Anstalten,
die uns wider besseres Wissen jeden Tag mit neuer Gewalt bombardieren und
den Keim dazu legen, daß die viel zu früh zu mündigen
Medienkonsumenten hochstilisierten Kinder Gewalt und Brutalität im Spiel
einüben und dann zu grausamen Instrumenten eines durchaus
wohlüberlegten Handelns machen. W.N.
Links:
HTML, Links und Kommentar: (c) W. Näser, MR 24.5.2000 * Stand:
7.11.2006 (zuvor: 19.10.2001)
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*) der wahre Name des rekordverdächtigen Jugend-Serientäters ist
mir bekannt; mir wurde allerdings vor etrwa einem Jahr telefonisch von dem
"Herrn Chr. M. vertretenden" Anwalt nahegelegt, diesen Namen hier nicht mehr
zu nennen. WN