Deutsche Dialekte: ein praktischer Versuch                     

(Erste Vorüberlegungen zu: German dialects, a practical approach)
von Wolfgang Näser, Marburg (23.12.2k5 ff.)

NB. Im Mai 2010 wurden alle früheren Real-Audio-Proben (*.ra) convertiert zu *.mp3 and lassen sich am besten abspielen mit dem Windows Media Player

Die deutschen Dialekte oder, wie man auch sagt, Mundarten, sind ebenso alt wie interessant. Sie sind farbenreich und lebendig, kraftvoll und ausdrucksstark, sprachliches Vehikel von Trauer und Freude und überschäumende Quelle des Humors. Schon vor über hundert Jahren hieß es, die Dialekte sterben aus, doch sie sind am Leben und aktiv gelieben. Noch Mitte Dezember 2005 sagt mir ein 24-jähriger Student aus einem kleinen Ort nahe Marburg "auf Platt" ins Mikrofon, er befasse sich hobbymäßig mit Computern. Und wenn Sie heute nach Zürich gehen und dort an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, an der Albert Einstein sein Diplom erwarb, möglicherweise eine Vorlesung über Atomphysik in schweizerdeutscher Lautung hören, dann ist das der lebende Beweis dafür, wie eindrucksvoll, identitätsstiftend und wirkungsmächtig eine ethnisch gebundene Varietät des Deutschen überleben kann. Die folgenden Ausführungen beschreiben nur einige wenige, praxisbezogene Aspekte der deutschen Mundarten und beanspruchen daher keine Vollständigkeit.

Was ist ein Dialekt?
Es hat viele Versuche gegeben, die Entstehung und die Natur der deutschen Dialekte zu beschreiben. Viele Aufsätze und sogar ganze Monografien wurden geschrieben zur Theorie des Dialekts. In dem Maße, wie sich die struktural klassifizierende Linguistik mit ihnen befaßte, wurden Dialekte gewissermaßen zu exotischen Wesen, denen eine wissenschaftliche Spezialbehandlung zuteil werden mußte. Man abstrahierte, bildete Ableitungs-Reihen und Modelle. Dabei wurde vergessen, daß eine Mundart nur dann richtig als solche erkannt und verstanden wird, wenn sie klingt, wenn man sie hört. Das gilt auch für die besonders im 19. Jahrhundert übliche Weise, Mundarten als Paradigmen-Strukturen zu dokumentieren und in klassisch-grammatischer Manier streng nach Laut- und Formenlehre zu klassifizieren; auf diese bewährte Weise entstanden viele Ortsgrammatiken. Als Gipfelpunkt dieser Klassifikation erstellte Ferdinand Wrede eine komplizierte Einteilung der deutschen Mundarten. Man hat herausgefunden, daß sich die Mundarten abgrenzen mit mehr oder wenig starken Bündeln von Isoglossen, man hat andere Darstellungen versucht, zum Beispiel mit Waben-Strukturen (Abb. rechts), und man hat die Dynamik mundartlicher Einflüsse und Veränderungen sogar mit militärisch entlehntem Wortschatz (Durchbruch, Keil, Rückzug) zu charakterisieren versucht. Doch warum sind es gerade die Sprecher, die ohne jede wissenschaftliche Kenntnis und Methode so zielsicher in der Lage sind, ihre Mundart gegen die des Nachbarortes abzugrenzen? Das Geheimnis scheint im Auditiven zu liegen, im Hörerlebnis, in der akustischen Perzeption des Dialekts, darauf werde ich noch eingehen und das stelle ich in den Mittelpunkt meiner bescheidenen Erörterung.

Aus wissenschaftlicher Sicht wurde versucht, den Dialekt zu definieren und ihn damit gegen die Allgemeinsprache abzugrenzen; Beispiele finden Sie hier. Bernhard Sowinski hat meines Erachtens eine der besten und umfassendsten Definitionen gegeben:

Mundart ist stets eine "der Schriftsprache vorangehende, örtlich gebundene, auf mündliche Realisierung bedachte und vor allem die natürlichen alltäglichen Lebensbereiche einbeziehende Redeweise, die nach eigenen, im Verlaufe der Geschichte durch nachbarmundartliche und hochsprachliche Einflüsse entwickelten Sprachnormen von einem großen heimatgebundenen Personenkreis in bestimmten Sprechsituationen gesprochen wird".
(in: Grundlagen des Studiums der Germanistik. Teil 1: Sprachwissenschaft. Köln / Wien 1970, 457)

Dialekt ist aber nicht immer gleich Dialekt. "You have dialects, we have accents", sagte mir im Frühjahr 1988 eine Londoner Stadtführerin - sie macht es sich dabei einfach, gibt es doch bedeutende Unterschiede zwischen dem Queen's English und Cockney, dem aus James Herriots "All Creatures" bekannten Idiom der Yorkshire Dales, der schottischen, irischen oder australischen Sprechweise und entsprechende englische Dialekt-Atlanten. Kaum andere Sprachen haben jedoch so "ausgebaute" Dialekte wie das Deutsche, und nicht überall spielen sie eine immer noch so große Rolle wie bei uns, daß sie in den Medien präsent sind, daß es an vielen Orten Mundartbühnen gibt, daß in Rundfunkprogrammen sogar Nachrichten auf Platt gesendet werden usw.

Was nun ist ein deutscher Dialekt? Er ist eine eigenständige Variante, die nicht zur nationalsprachigen Norm wurde. Die heutige deutsche Standardsprache, oder, wie Mirra Guchman sagen würde, deutsche Nationalsprache, ist nichts anderes als ein historisches Zufallsprodukt. Sie alle kennen die Deutsche Hanse, jene Handelsorganisation, deren Büros sich von London bis Nowgorod erstreckten. Ihre Amtssprache war das Mittelniederdeutsche. Diese Sprache wurde bis in die Mitte Deutschlands hinein geschrieben und gesprochen, wir wissen es von zahlreichen Urkunden her. Wäre sie zur Norm geworden, sprächen wir heute so etwas wie Niederländisch, würden uns vielleicht mit "Goeie Dag" begrüßen. Als aber die deutsche Hanse im 14. Jahrhundert unterging, verschwand damit das Niederdeutsche als Urkundensprache weitgehend und blieb nur noch im Norden übrig. Danach setzte sich die obersächsisch-meißnische Kanzleisprache durch, sie war das Idiom Martin Luthers. Seine deutsche Bibelübersetzung (hier ein Beispiel) begeisterte viele Menschen mit ihrer kräftigen, lebendigen Sprache, hierzu folgende Beispiele seines innovativen Wortschatzes (in moderner neuhochdeutscher Fassung):

anschnauben, Blutgeld, Dachrinnen, durchsäuert, Eifergeist, einpfropfen, ernten, sich erregen, Feuereifer, Feuerofen, Flattergeister, Fleischtopf, die Friedfertigen, gastfrei, Gegenbild, Gnadenstuhl, gottselig, (nach) Herzenslust, die Hohen Priester, Ihr Kleingläubigen, Kriegsknecht, Lästerlippen, Landpfleger, Linsengericht, Menschenfischer, im Morgenland, nacheifern, nachjagen, ihr Otterngezücht, plappern, Rüsttag, auserwähltes Rüstzeug, in Schafskleidern, Schaubrot, Schädelstätte, störrisch, überschattet (von), übertüncht, verdolmetscht, wetterwendisch, Zinsgroschen, zermalmen
(nach: Joh. ERBEN, Luther und die deutsche Schriftsprache. In: Dt. Wortgeschichte I, 439-492)

Mit regionalen Druck-Varianten verbreitete sie sich im ganzen deutschen Sprachgebiet. In den Handelsstädten des Donauraumes (Wien, Regensburg, Augsburg, Nürnberg) bildete sich unter dem Einfluß der Kanzlei Kaiser Maximilians I. (1493-1519) das sog. Gemeine Deutsch. Hätte es sich durchgesetzt, so würden wir heute eine Art Bairisch sprechen, also z.B. "Pauer" sagen statt "Bauer" und "Grüß Gott" statt "Guten Tag" oder neuerdings "Hallo" sagen. So wurde per Zufall eine regionale Variante, die ostmideldeutsche Verkehrssprache zur Basis unserer neuhochdeutschen Gemein- oder Nationalsprache. Alle Varianten des Deutschen, also Abweichungen von dieser Norm, haben im Grunde denselben Wert. Denn hypothetisch gesehen hätte jede von ihnen zur Norm werden können. Daher müssen wir uns fragen, ob wir die deutschen Dialekte als eigenständig Systeme betrachten oder als untergeordnete Varianten.

Interessant ist in den deutschen Dialekten das sogenannte Schibboleth. Dieses hebräische Wort bedeutet soviel wie Erkennungszeichen. Hierbei fungiert ein Wort als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe sowie deren Kultur und Sprache. So erstaunlich es ist: man kann bestimmte Dialekte an nur einem charakteristischen Wort bzw. einer bestimmten Lautung erkennen, die sich woanders nicht findet, so zum Beispiel das Westfälische an bruoken (engl. broken), wo das /o/ zu /uo/ "gebrochen" wird, und das Zentralhessische an Brourer (engl. brother), das gleich zwei Eigenheiten enthält: den sog. gestürzten Diphthong (althochdeutsch uo > ou) und den Rhotazismus (Dental /d/ wird zum Liquid /r/); andererseits gibt es gleichartige Phänomene in auseinanderliegenden Dialekten, so Gutturalisierung in Wing (engl. wine) sowohl in der nordhessischen Schwalm wie im Ripuarischen und k-Palatalisierung (k > tch) sowohl im Ostpommerschen (dai tchinner = 'die Kinder) wie im waldeckischen Upland. Als Grund können Siedlungsbewegungen in Frage kommen, so wie überhaupt Verkehr, Handel und natürliche geographische Grenzen viel zur Bildung der deutschen Dialekte beigetragen haben. Wo ein Areal durch Flüsse, Seen oder Gebirge begrenzt war und / oder es sich als Herrschaftsgebiet eines Grafen, Fürsten oder Bischofs von anderen Regionen unterschied, da gab es einen sozial begrenzten Kommunikationsraum und somit eine individuelle Entwicklung der Sprache. Ja, es gab sogar einzelne Orte, wo rechts und links von der Straße unterschiedlich gesprochen wurde. Adolf Bach und andere verdiente Mundartforscher geben entsprechende Beispiele. 

Zur Entstehung
Wie entstanden die deutschen Dialekte? Auch dazu gibt es mehrere Theorien (z.B. Stammbaum-, Wellen-, Entfaltungstheorie). Gesichert ist hingegen, daß sich im 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung mit der sog. Zweiten Lautverschiebung die deutsche Sprache aus dem Germanischen herauskristallisierte und das aus dem germanischen theudo 'Volk' stammende Wort deutsch schon im Althochdeutschen als diutisc existierte, also gab es da schon Anfänge eines überregionalen , nationalen Bewußtseins in bezug auf Kultur und Sprache. Die Konsonanten /p/, /t/ und /k/ wie in engl. pipe, tide, cake wandelten sich in der Zweiten oder Althochdeutschen Lautverschiebung zu Reibelauten (Frikativen) oder Affrikaten, also Pfeife, Zeit, Kuchen. Dieser Wandel nahm seinen Ausgang im Süden, hier entstanden auch die ersten deutschen Schreibstätten, und breitete sich nach Norden aus. Wie eine Meereswelle, die zum Strand hin immer schwächer wird und sich im Sand verläuft, wurde auch dieser Lautwandel immer schwächer; geschieht er im Süden noch in allen drei möglichen Positionen, d.h. im Anlaut, Inlaut und Auslaut, so haben wir in der Mitte des heutigen deutschen Sprachraums eine Zone, in der er zum Beispiel im Anlaut nicht und im Inlaut doch erfolgt, wie in Peffer für engl. pepper. Ein bsehr gutes Beispiel für diese Misch-Zone ist das Ripuarische oder das vom deftigen Karneval her bekannte Idiom der Großstadt Köln. "Kölsch", heißt es, sei die einizige Sprache, die man auch trinken könne. Et kütt 'es kommt' sagt man dort, verschiebt andererseits /t/ zu /ts/ in verzellen 'erzählen = engl. to tell'. Starke Verwandtschaft mit dem Englischen zeigt sich auch in hallef 'halb = engl. half'. Im Norden erfolgt überhaupt keine Lautverschiebung, die alten germanischen Verhältnisse bleiben bestehen.

Wir unterscheiden also einen Bereich totaler oder fast totaler Lautverschiebung, das sog. Oberdeutsche, dann als Bereich partieller Umsetzung, als Misch-Zone das Mitteldeutsche und als Bereich fehlender Lautverschiebung des Niederdeutsche. Daß dies auch mit den Landschaften korrespondiert, wir also im Niederdeutschen keine Berge finden, also plattes Land ist, hilft dieser Terminologie. Plattdeutsch wird zwar fast ausschließlich auf dem "platten Lande" gesprochen, also im Norden, während die Wendung "mir schwätze Platt" auch für einen mittelhessischen Dialekt zutreffen kann. Platt als volkssprachliches Synonym für 'Dialekt' entstand aus plat Dytsch in der Bedeutung 'plain German'. Interessanterweise sagen gerade die einfachen Leute eher, sie sprächen den (oder das!) Dialekt, während im akademischen Bereich der Terminus Mundartforschung entstand (eine ähnliche lexikalische Entwicklung wie bei Computer und Rechner). Die langjährige Zeitschrift für Mundartforschung wurde erst 1969 in Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik umbenannt. Die deutschen Hauptmundarten gelten auch als Stammessprachen; nicht umsonst tragen sie entsprechende Bezeichnungen wie Fränkisch, Sächsisch, Bairisch (mit /i/!), Schwäbisch; während diese vier Hauptmundarten gemeinsame Charakteristika haben, gibt es indessen kein Hessisch, auch wenn das "Gebabbel" der Main-Metropole Frankfurt und ihres Umlandes auch im Zuge des Tourismus oft als Hessisch bezeichnet wird. Das kleine Hessen, Resultat einer administrativen Neuordnung, hat nämlich 4 klar abgegrenzte Hauptmundarten: das ans Thüringische grenzende Nordhessisch (um Kassel herum), das Mittelhessische (Marburg - Gießen), das Osthessische (Fulda) und das Südhessische (Frankfurt - Darmstadt), alle sind literaturfähig. Südwestlich von Kassel verläuft die ik/ich-Linie, die das Niederdeutsche vom Mitteldeutschen trennt, so daß in Hessen an der westfälischen Grenze ein ganz anderer Dialekt gesprochen wird, das Westniederdeutsch-Westfälische.

Der Lautwandel von p,t,k erstreckt sich von den ersten Zeugnissen des Althochdeutschen, also im 6. Jahrhundert, bis etwa 1400, den Beginn des Frühneuhochdeutschen. Wie im Mittelalter gesprochen wurde, können wir nur aus schriftlichen Quellen erschließen, zum Beispiel Reim-Analogien in Epen oder frühen deutschen Urkunden.

Daß es schon um 1300 ein Mundart-Bewußtsein gab, zeigt uns Hugo von Trimberg in seinem Epos "Der Renner". Der fränkische Dichter (ca. 1235-1313) erwähnt zum ersten Male lantsprachen, also areale Varianten, den ersten Ausdruck für unsere Mundarten. Das didaktische Epos umfaßt 24.611 Verse und folgt der damaligen "Summen"-Tradition, das Wissen der Zeit enzyklopädisch darzustellen. Hugo kennt die menschliche Natur, er geißelt die sieben Todsünden und kritisiert die damaligen Stände, wobei er dem Adel Arroganz und Luxus vorwirft und der Geistlichkeit Dummheit und Habsucht. Er verachtet den Adel und das höfische Leben und sympathisiert mit den Armen und Rechtlosen. Hugos Wertschätzung für die eigene Abstammung und Mundart vermittelt Solidarität und mag eine Ursache dafür sein, daß der "Renner" schon zu seinen Lebzeiten oftmals abgeschrieben wurde, sich schnell verbreitete und populär wurde. Sehen wir nun, was Hugo über areale Varianten schreibt:

Von manigerlei sprâche

22261 An sprâche, an mâze und an gewande
           Ist underscheiden lant von lande. ...

22265 Swâben ir wörter spaltent,
           Die Franken ein teil si valtent,
           Die Beier si zezerrent,
           Die Düringe si ûf sperrent,
           Die Sahsen si bezückent,
22270 Die Rînliute si verdrückent,
           Die Wetereiber si würgent,
           Die Mîsener si vol schürgent,
           Egerlant si swenkent,
           Oesterrîche si schrenkent,
22275 Stîrlant si baz lenkent,
           Kernde ein teil si senkent,
           Bêheim, Ungern und Lamparten
           Houwent niht mit tiutscher barten,
           Franzois, Walhe und Engellant,
22280 Norweye, Yberne sint unbekant
           An ir sprâche tiutschen liuten;
           Nieman kan ouch wol bediuten
           Kriechisch, jüdisch und heidenisch,
           Syrisch, windisch, kaldêisch:
22285 Swer daz mischet in tiutsch getihte,
           Diu meisterschaft ist gar ze nihte.
           Die lantsprâche dâ vor genant
           In tiutschen landen sint bekant:
           Swer ûz den iht guotes nimt,
22290 Daz wol in sînem getihte zimt,
           Mich dünket dern habe niht missetân,
           Tuot erz mit künste und niht nâch wân.
           Wenne Westfalen und manigin lant,
           Diu hie belibent ungenant,
22295 In Tiutschen landen sint bekant,
           Aleine si maniger zungen hant
            Würgen, zwicken und binden
            Vorn, mitten und hinden.
            Wenne T und N und R
22300 Sint von den Franken verre
           An maniges wortes ende:
           Wer wil dâr üm si pfende,
           Ob Swanfelder ir wörter lengent
            Und Babenberger ir sprâche brengent
22305 Von den hülsen ûf den kern?
            Ein ieglîch mensche sprichet gern
            Die sprâche, bî der er ist erzogen.

Babenberger hier: 'Einwohner Bambergs' Swanfeld Schwanfeld Kreis Schweinfurt (angebl. Heimat Walthers von der Vogelweide)

In den Zeilen 22299 ff. beschreibt Hugo seinen eigenen, fränkischen Dialekt. Ansonsten können wir nur ahnen, was er mit seiner Charakterisierung sagen wollte, doch haben wir hier den ersten Versuch, regionale Varianten beim Namen zu nennen und sie auf bestimmte Landschaften und Sprecher zu beziehen.

Dieser Stein in einem Cuxhavener Vorgarten, den ich 2002 fotografierte, zeigt die wesentlichsten Merkmale des von Hugo nicht erwähnten Niederdeutschen. "Tu, was du willst (oder: was auch immer du tust), die Leute reden doch". Snacken, den typisch niederdeutschen Ausdruck für reden,  finden wir schon im 13. Jahrhundert bei Wernher dem Gaertenaere, wenn er in seinem Meier Helmbrecht niederdeutsche Elemente dazu benutzt, die Sprache des einfältigen, naiven Menschen zu charakterisieren, des dorpaere (woraus nhd. Tölpel 'Narr' entstand), also jemandes, der in einem Dorf lebt und keine höhere Bildung erfahren kann. Andererseits ist eine solche Typisierung ungerecht, denn, wie folgendes Beispiel zeigt, diente das Niederdeutsche damals auch als offizielle Kanzleisprache:

"Wi Ropraght (...) bekennen vnde don / kunt / allen die dessen bref sien vnde horen lesen dat wi hebbet ghelouet vnde louen in dessen ghyghenwarden breue / dat wi (...) maket vnde kundyghen  (...) / Desse bref is ghegheuen / des gude(n)daghes vor Sante vrbanes daghe in den iare also man tellet van godes ghebort dusent drihu(n)dert vnde eyne(n)twintygh iar"

Im Jahre 1652 schreibt der von 1590-1658 lebende, dem Sprachpurismus der damaligen Zeit verhaftete Rostocker Mathematik-Professor Johann Lauremberg auf Mecklenburgisch "Van alemodischer Poesie und Rimen":

Wat kann man bringen her vör Argument und Gründe,
dormit jemand van juw richtig bewisen kunde
de Mening, dat van der hochdüdschen Sprake mehr
als van unser nedderdüdschen to holden wer?
Unse Sprake blifft altit bestendig und vest,
als se ersten was, even so is se ok lest.
Juwe verendert sick alle vöfftig Jahr,
dat könen de Schriften bewisen klar.
Wille gi mi nicht gelöven, so möge gi upsöken,
wat geschreven und gedrücket is in olden Böken.
Einer kann mit goter Möi kum dre Regen lesen
van der Sprak, de domals is im Gebruk gewesen.
Se is so lappisch und so verbrüdisch,
dat men schier nicht weet, of it Welsch is edder Düdisch.
So bunt is se und so vernaten,
als wenn se in eine nie Form were gegaten.
Ja, se is so jammerlick verworen,
als were se gewest bim Babylonschen Toren
Men de Sprake in ganz Nedder Sachsen Land
blifft unverrückt und hefft Bestand
dat werd geredt von altomalen
in Meckelnborg, Pommern und Westfalen,
in den andern Landschoppen desgeliken,
einerlei Sprake, darvon se nicht wiken
Was kann man denn für Argumente vorbringen,
womit jemand von euch rechtfertigen könnte
die Meinung, daß von der hochdeutschen Sprache mehr
als von unser niederdeutschen zu halten wär?
Unsere Sprache bleibt allzeit beständig und fest,
wie sie zuerst war, ist sie auch noch zuletzt.
Eure verändert sich alle fünzig Jahr,
das können die Schriften beweisen klar.
Wollt ihr mir nicht glauben, so mögt ihr aufsuchen,
was geschrieben und gedruckt ist in alten Büchern.
Einer kann mit aller Mühe kaum drei Reihen lesen
von der Sprache, die damals in Gebrauch gewesen.
Sie ist so läppisch und so verdorben,
daß man schier nicht weiß, ob sie welsch ist oder deutsch.
So bunt ist sie und so durchweicht,
als wäre sie in eine neue Form gegossen.
Ja, sie ist so jämmerlich verworren,
als wäre sie gewesen beim Babylonschen Turm
Doch in der Sprache im ganzen Niedersachsenland
bleibt unverrückt und hat Bestand
daß geredet wird von altersher
in Mecklenburg, Pommern und Westfalen,
in den anderen Landschaften desgleichen,
in einer Sprache, wovon sie nicht weichen.
Aus: BOSCH, Manfred (Hg.): Mundartliteratur. Frankfurt u.a. 1979, S. 82. Hochdt. Übertragung und Glossar von
W. Näser

Gründe reasons; von juw of you; bewisen testify, witness; kunde could; Mening meaning; dat that; Sprake language (cf. speech); mehr more; holden think (cf. hold); blifft stays, remains; bestendig constant; fest fast; as se ersten was as it was first; even even; lest at last; juwe yours; verendert sick changes; vöfftig Jahr fifty years; könen can; Schriften scriptures; klar clearly; wille gi will you; gelöven believe; möge gi may you; upsöken seek; geschreven written; gedrücket printed; in olden Böken in old books; mit guter Möi with a lot of effort; kum hardly; dre Regen three lines; domals then; im Gebruk in use; lappisch ridiculous; verbrüdisch corrupted; dat man schier nicht weet that you simply don't know; of it Welsch whether it is Welsh, Roman; edder or (cf. other); Düdisch German (cf. Dutch); bunt colourful; vernaten wet, inconsistent; gegaten cast, moulded; jammerlik pitifully; verwor(r)en confused, muddled; als were se gewest as if it hat been; bin Babylonschen Toren near the Tower of Babylon; Nedder Sachsen Land country of Lower Saxonia; blifft unverrückt remains solid (cf. as -- as a rock); hefft Bestand is everlasting; dat werd geredt that is is spoken; von altomalen always, from the beginning; Landschoppen regions (cf. landscape); desgeliken in the same way; darvon se nicht wiken which they will not give up

 Auseinanderentwicklung von Standard und Dialekt:

Schon mit der Urkundensprache Karls IV. und Johann v. Tepls "Ackermann aus Böhmen" (> 1400, Bild re.) und mit den Werken der Mystiker bildet sich eine Allgemeinsprache, die fähig ist, zu abstrahieren, philosophisch zu reflektieren und wissenschaftliche Thesen zu bilden. Wie erwähnt, wurde eine der überlandschaftlichen Schreib- und Verkehrssprachen zur Norm. Die neuhochdeutsche Verkehrssprache, die wir nur als schriftliche Form kennen, wurde stetig verändert, verfeinert, entwickelte sich somit auch zur Literatur- und Gesetzessprache. 1521 bekennt sich Ulrich von Hutten zur "Teutsch nation in ihrer sprach", 1526-1528 hält Paracelsus in Basel Vorlesungen in deutscher Sprache, 1525 erscheint Albrecht Dürers geometrisches Fachbuch "Unterweisung der Messung". Martin Luther (1483-1546) hat ab 1516 in deutschsprachigen Drucken publiziert, 1522 das Neue Testament ins Deutsche übertragen und sich 1530 in seinem "Sendbrieff vom Dolmetschen" mit Problemen der korrekten Übersetzung befaßt. Im "Orbis pictus" (1658) des Johann Amos Comenius (1592-1670) zeigt sich schließlich das Deutsche als allgemein und leicht verständliche Unterrichtssprache.

Während sich die deutsche Nationalsprache stetig verfeinert, verfestigen und tradieren sich im Zuge der deutschen "Kleinstaaterei" (und (besonders in den Sprachinseln) viele lokale und kleinregionale Dialekte, die sich in der frühen Neuzeit herausbildet haben, dienen der Kommunikation in allen Lebensbereichen und schaffen soziale und kulturelle Identität. In Lebens- und Arbeitsbereichen wie zum Beispiel am Fließband wird die Mundart zum Sprachrohr für Sorgen und Nöte der Werktätigen. Im Gegensatz zur weithin normierten Standard- oder Alltagssprache entwickeln die Mundarten besondere Wörter und Wendungen, um Gefühle auszudrücken (z.B. Liebe, Wut, Haß) - nicht umsonst gibt es im deutschen Sprachbereich so viele Schimpf-Wörterbücher. Und, was am einen Ort sehr verletzend klingt, drückt woanders ein Erstaunen aus: so meint der Bayer, wenn er sagt "Do leckst mi am Arsch", daß er sich über etwas wundert.

In den ausländischen Sprachinseln bleiben Mundarten und Lebensart meist konservativ, während im deutschen Sprachgebiet auch bei den Mundarten Veränderungen durch Kontakte mit nachbarsprachlichen Varianten (languages in contact) entstehen; spezielle, ortsgebundene Lautungen und / oder Wörter sterben aus und werden durch überörtlich gebrauchte ersetzt; aus der Mischung (melange) lokaler Dialekte entstehen regionale Ausgleichssprachen. Einheiratende Familienmitglieder bringen ortsfremde Sprachelemente ein und durchsetzen damit den Dialekt ihrer neuen Heimat, den sie nicht selten als Zweitmundart erlernen. Intelligente, sprachbewußte Menschen können ihre Mundart gegen die der Nachbarn abgrenzen und blitzschnell in die Hochsprache wechseln, wenn es die Sprechsituation erfordert; man kann dieses code-switching als Form des Bilingualismus bezeichnen.

[K.H. KÄSINGER zu "Dialekt + Schule", Aufnahme in Schwälmer Mundart , Mai 2001] Wer zwei Sprachvarianten beherrscht und klar abgrenzt, macht nach Ansicht erfahrener Lehrer im Standarddeutschen weniger Fehler als jemand, der sich einer undefinierbaren Mischsprache bedient wie heute viele Jugendliche, die unreflektiert Anglizismen verwenden, wo dies gar nicht nötig ist, und dann die entsprechenden deutschen Wörter verlernen, so daß sie anspruchsvolle deutsche Texte oder gar ältere Literatur nicht mehr verstehen.

Wie in der Musik, wo sich aus dem um 1900 entstandenen Jazz allmählich feste Stile herausbildeten und zu mehr oder weniger komplizierten Kunstformen wurden, entstand eine durchaus Stil-bewußte, von großer Verschiedenheit geprägte Dialekt-Literatur. Fritz Reuter (1810-1874), Klaus Groth (1819-1899) und Ludwig Thoma (1867-1921) gehören zu ihren hervorragendsten Vertretern, in der Moderne sind es Herbert Achternbusch (*1938, oberbayr. Umgangssprache), Dieter Bellmann (*1930) und Walter A Kreye (Niederdeutsch), Franx Xaver Kroetz (Bairisch), Peter Kuhweide (Westfälisch), Kurt Sigel (* 1931, Frankfurterisches Hessisch), Ludwig Soumagne (Niederrheinisch-Ripuarisch), André Weckmann (Unteresässisch) und andere; die promovierte Germanistin und Lyrikerin Ulla Hahn (* 1946) setzt in ihrem umfangreichen Roman-Debüt "Das verborgene Wort" (2001) dem ripuarisch geprägten Idiom ihres rheinisch-katholischen Heimatmilieus ein Denkmal. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitet sich die Mundartdichtung aus und wird, wie z.B. im alemannischen Dreiländereck, Ausdrucksmittel auch des politischen Protests wie gegen die als umweltzerstörend gebrandmarkten Atomkraftwerke.

In der Dialektdichtung emanzipiert sich die sprachliche Varietät zur ausdrucksstarken, literaturfähigen und somit verfeinerten Form. Wie kräftig und eindrucksvoll ein solches Gedicht klingt, hören Sie an Groths "Min Modersprak"; das Gedicht entstand 1849 auf der Insel Fehmarn; ich drucke es hier synoptisch mit einer hochdeutschen Übertragung, die ich 1996 erstellte:

Min Modersprak, wa klingst du schön!
Wa büst du mi vertrut!
Weer ok min Hart as Stahl un Steen,
Du drevst den Stolt herut.

Du bögst min stiwe Nack so licht
As Moder mit èrn Arm,
Du fichelst mi umt Angesicht.
Un still is alle Larm.

Ik föhl mi as en lüttjet Kind,
De ganze Welt is weg.
Du pust mi as en Voehrjahrswind
De kranke Boss torecht.

Min Obbe folt mi noch de Hann'
Un seggt to mi: Nu bè!
Un "Vaderunser" fang ik an,
As ik wul fröher dè.

Un föhl so deep: dat ward verstan,
So sprickt dat Hart sik ut.
Un Rau vun'n Himmel weiht mi an,
Un allns is wedder gut!

Min Modersprak, so slicht un recht,
Du ole frame Rèd!
Wenn blot en Mund "min Vader" seggt,
So klingt mi't as en Bèd.

So herrli klingt mi keen Musik
Un singt keen Nachdigal;
Mi lopt je glik in Ogenblick
De hellen Tran hendal.

O Muttersprache, klingst du rein!
Wie bist du mir vertraut!
Wär' auch mein Herz wie Stahl und Stein,
Du triebst den Stolz heraus.

Du beugst den steifen Hals so leicht
Wie Mutters lieber Arm,
Du schmeichelst mir ums Angesicht
Und weg ist aller Harm.

Ich fühl mich wie ein kleines Kind,
Die Welt ist einerlei.
Du bläst mir wie ein Frühjahrswind
Den kranken Busen frei.

Großvater faltet mir die Hand
Nun bete, ist sein Rat.
Und "Vater unser" fang ich an
Wie ich es früher tat.

Die Rede wirkt, schenkt neuen Mut,
So spricht das Herz sich aus;
Himmlische Ruhe weht mich an
Nun ist es wieder gut.

O Muttersprache, recht und schlicht,
Du alte, fromme Red'.
Wenn nur ein Mund 'mein Vater' sagt,
So klingt mir's wie Gebet.´

So herrlich klingt keine Musik,
Singt keine Nachtigall;
Mir läuft im selben Augenblick
ein Tränenstrom zutal.

(im englischen Text finden sich weitere Beispiele dialektaler Literatur)

Auch in der Literatur wird die Mundart das Idiom der ländlichen Bevölkerung (Ludwig Thoma, "Erster Klasse") und / oder der Arbeiterschaft (Gerhart Hauptmann, "Die Weber"; Jürgen von Manger, "Adolf Tegtmeier", Ruhrpott-Slang; Jochen Steffen, Missingsch). Zum Ausdrucksmittel des Komischen wird die Mundart oder Mundartlautung bei Emil Steinberger in seinen schweizerdeutschen Sketchen. Einfache Umlautung kann bereits die komischsten Effekte erzielen, wie die englische TV-Serie "Allo-allo" beweist: sie spielt im von den Deutschen besetzten Frankreich des 2. Weltkriegs, in der kleinen Welt des Café René, wo immer wieder ein zu Hilfsdiensten kommandierter britischer Polizist mit seiner Sprache zeigt, daß er kein Französisch sprechen kann. Wie geschieht dies: indem er ein entsetzlich umgelautetes Englisch von sich gibt wie in "I have good nose" ('news'), "my mither-in-loo" ('mother-in-law'), "The bitteries for the rodeo" ('the batteries for the radio'), "they are farting for freedom" ('fighting ...'). In der Neuzeit wird der Dialekt als Substandard meist zur Sprache der sozialen Unterschicht, wenn man vom Honoratiorenschwäbisch absieht und vom Standard-Schweizerdeutschen, das sich mit spezieller Lautung und Sonderwortschatz zu einer Art Standardsprache entwickeln konnte.

Eine Sprachvariante wird dann zur Norm, wenn es gelingt, schriftsprachlich verbindliche Konventionen zu schaffen. Andererseits normieren sich auch die Mundarten, sofern sie identitätsbildend werden; sprachliche Identität basiert auf klar definierbaren Merkmalen, sonst könnte ein Dialektsprecher auch ohne linguistische Kenntnisse nicht zielsicher analysieren (herausfinden, feststellen), warum jemand, den er zum ersten Male trifft, aus einem Nachbarort oder von ganz woanders her kommt. Während die zum Standard gewordene Sprachform entsprechend sozialer, kultureller und industrieller Neuerungen Neologismen bildet und sich auch stilistisch verfeinert, adaptieren die Mundarten Neologismen, auch innerhalb der Jugendsprache, lediglich durch Umlautung und verwenden ihre Idiomatik hauptsächlich zum Ausdruck von Gefühlsregungen.

Sprachgeschichte und Dialektologie als Wissenschaft
Der "Renner" von 1300 nennt uns erstmals regionale / areale Varianten, allerdings noch ohne wissenschaftlichen Anspruch. Als Martin Luther seine Übersetzungen vornahm und in seinem "Sendbrief" darüber reflektierte, entstand gelehrtes Interesse an der Sprache und ihrer arealen Varianz. 1532 erschien Adam Petris Wörterbuch zu Luthers Neuem Testament (hier eine Leseprobe zur Weihnachtsgeschichte), 1555 publizierte Konrad Gesner eine schwäbisch-schweizerdeutsche Wortliste, ab dem 17. Jahrhundert erschienen zahlreiche sog. Idiotica, das waren regionale Mundartwörterbücher, 1816, 1821 und 1847(-1867) erschienen Textsammlungen, und mit der von Johann Andreas Schmeller veröffentlichten "Karte der Mundarten Bayern" kam die sogenannte Sprachgeographie in Gang (hier Zeittafel).

Daß wir so heute so viel über Existenz und Natur nicht nur der Hauptmundarten, sondern auch und gerade der lokalen Dialekte wissen, verdanken wir dieser Sprachgeographie. Diese setzt sich zum Ziel, regional oder lokal unterschiedliche Sprachdaten in ihrer geographischen Verteilung darzustellen, also auf der Basis von Karten, so daß die dialektalen Verhältnisse oft schon auf den ersten Blick ersichtlich sind. Da nicht nur sprachliche, sondern auch soziologische, demographische, ökonomische und andere Daten so darstellbar sind, spricht man generell auch von thematischer Kartographie. Diese heute vor allem auch computativ genutzte Darstellungsweise eignet sich natürlich besonders auch dazu, sprachliche Varianz im schulischen und universitären Unterricht zu vermitteln.

Nach Karl Bernhardis "Sprachkarte von Deutschland" war es der junge Lehrer und Philologe Georg Wenker, der mit seinem Aufsatz "Das rheinische Platt" von 1877 zeigte, wie sehr er bereits als 25-Jähriger mit allen Mundarten der Rheinprovinz vertraut war; er setzte mit seinen detaillierten Kenntnissen seine Mitmenschen in höchstes Erstaunen. Wenker wollte die ihm also wohlbekannten Dialekte seiner Rheinprovinz systematisch dahingehend erforschen, ob sie in Entstehung und Charakter den Lautgesetzen gehorchten, die damals von den sogenannten Junggrammatikern aufgestellt worden waren. Deshalb ersann der geniale junge Mann 40 Sätze. Diese Sätze enthalten alle lautlich und morpholologisch wichtigen Details bzw. Phänomene, zu denen in verschiedenen Mundarten Varianz zu erwarten ist. Hier einige dieser Sätze: damit Sie sie verstehen, gebe ich sie in deutscher, niederländischer und englischer Sprache.

1. D     Im Winter fliegen die trockenen Blätter in der Luft herum.
    NL  In de winter vliegen de droge bladeren door de lucht.
    E     In winter the dry leaves are flying around in the air.  

2.        Es hört gleich auf zu schneien, dann wird das Wetter wieder besser.
           Het houdt straks op te sneeuwen, dan wordt het weer weer beter.
           It will stop snowing soon, then the weather will get better.

3.        Tu Kohlen in den Ofen, damit die Milch bald zu kochen anfängt.
           Doe kolen op de kachel, dat de melk gauw begint te koken.
           Put coals in the oven (so) that the milk will start boiling soon.

7.        Er ißt die Eier immer ohne Salz und Pfeffer.
           Hij eet de eieren steeds zonder zout en peper.
           He always eats the eggs without salt and pepper.

16.      Du bist noch nicht groß genug, um eine Flasche Wein allein auszutrinken, du mußt erst noch wachsen und größer werden.
           Jij bent nog niet groot genoeg om een vles wijn leeg te drinken, je moet eerst nog een beetje groeien en groter worden.
           You aren't tall enough yet to empty a bottle of wine; you have to grow a bit and get taller first.

Diese Wenkersätze (zum Wortbestand siehe hier) wurden bis heute immer wieder abgefragt, um regionale oder lokale Mundarten zu dokumentieren, sei es im Rahmen des Deutschen Sprachatlas, sei es in späteren Enqueten. So dienen diese Sätze als hervorragende Basis, als tertium comparationis, für Vergleiche; wie wir oben sehen, nicht nur in nerhalb des Deutschen, sondern auch mit allen anderen germanischen Sprachen. Den Satz 16 werden wir später verwenden, um an Hörbeispielen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Mundarten mit dem Englischen zu zeigen. Betrachten im Sinne der Junggrammatiker das Deutsche als germanischen Dialekt, so können wir die nieder- und mitteldeutschen Varietäten möglicherweise als andere "germanische Dialekte" oder zumindest als germanische Sub-Dialekte mit dem Englischen vergleichen, das nun als Basis dient, um die Mundartbeispiele zu verstehen, auch wenn man als Hörer vorher nie in der Lage war, Deutsch zu verstehen.

Als Wenker seinen Sprachatlas der Rheinprovinz zeichnete (der nie in gedruckter Form erschien), zeigten sich zwei interessante Resultate: 1. der Lautwandel erfolgte nicht einheitlich: das zeigt der sog. Rheinische Fächer (Bild re. aus: Löffler, Probleme der Dialektologie, S. 28), 2. es gibt in den Mundarten nicht nur phonetisch-phonologische und morphologische Varianz, sondern auch lexikalische, also unterscheiden sich die deutschen Dialekte auch in den Lexemen, also Wörtern, die für bestimmte Begriffe gebraucht werden. Und da gibt es sehr eindrucksvolle Beispiele, nicht nur Gaul, Mähre, Hengst, Roß usw. für "Pferd", sondern sehr viele Varianten für "Ameise" und andere Wörter (Jürgen Eichhoff zeigte eine solche Varianz später in seinem "Wortatlas" auch für die dt. Umgangssprache auf).

Wenker erhielt seine Daten per Fragebogen. Hier sehen Sie den Wenkerbogen aus Hagenest bei Borna in der Nähe von Leipzig:

Er wurde in einer alten deutschen Schrift erstellt, die man Sütterlin nannte. Jeder Ort bzw. jede Schule erhielt einen Bogen und jeder Lehrer mußte mit seinen Schülern diesen Bogen ausfüllen. Damals wurden solche Aufträge ebenso genau wie pünktlich erledigt, deshalb erhielt Wenker seine Bögen schnell zurück und konnte sie bald auswerten. Sein Untersuchungsgebiet dehnte er bald auf Nord- und Mitteldeutschland aus, später folgte der Süden, und es waren über 40.000 Schulorte zusammengekommen; längst war Wenker tot, sein Nachfolger Wrede konnte ebensowenig wie er diese gigantische Aufgabe abschließen. Viele Wissenschaftler arbeiteten am deutschen Sprachatlas, der sich zum Ziel setzte, die dialektale Varianz jedes deutschsprechenden Ortes auf geographischen Grundkarten darzustellen.

Wenkers Verfahren arbeitete indirekt, d.h. er fuhr nicht wie andere damalige Forscher sein Untersuchungsgebiet mit dem Fahrrad ab, besuchte die Sprecher, hörte ihnen zu und schrieb den Dialekt phonetisch auf. Diese indirekte Methode erntete viel Kritik. Erst 120 Jahre später, als Jürgen Erich Schmidt und sein Team den Digitalen Wenkeratlas erarbeiteten, erkannte man anhand von Vergleichen mit neueren Untersuchungen, wie exakt die Wenkerbögen den tatsächlichen Stand der einzelnen Dialekte repräsentieren, obwohl sie alle dialektalen Varianten nur in normaler, also von jedermann lesbarer Schreibung wiedergeben.

Der von Georg Wenker initiierte Deutsche Sprachatlas überforderte mit seiner riesigen Datenmasse die damit beschäftigten Wissenschaftler. Alle der insgesamt mehr als 1.500 Teilkarten wurden vielfarbig gezeichnet und konnten aus drucktechnischen Gründen so bis heute nicht auf Papier publiziert werden, es erschien lediglich ein schwarz-weiß gestalteter Teildruck. Doch wurde der deutsche Sprachatlas, in dem jeder mögliche Ortspunkt mit seinen Dialektdaten dokumentiert ist, weltweit zum Vorbild. Es entstand als Forschungsrichtung die berühmte Marburger Schule der Sprachgeographie; Dialektatlanten erschienen in vielen Ländern. In Japan wurde schon früh eine sehr intensive Dialektforschung in Gang gesetzt. Der erste japanische Sprachatlas in 2 Bänden (Phonologie, Morphologie) erschien bereits 1905-06. Der Cercle dialectologique du Japon, der Nihon Gengo-Chizu (Linguistic Atlas of Japan, Tokyo 1966-1974; er ziert die Marburger Sprachatlas-Bibliothek), der Grammar Atlas of Japanese dialects (GAJ) und das Corpus of Spontaneous Japanese (CSJ, 1999-2003) folgten.

Als weiteres riesiges Unternehmen entstand der 1939 von Walther Mitzka begonnene Deutsche Wortatlas, der bis 1980 in 22 Bänden erschien. In rund 47.000 Schulorten des damaligen Deutschen Reiches wurden per Fragebogen 200 Wörter aus dem bäuerlich-häuslichen Leben abgefragt und die jeweiligen Varianten als Symbole auf Karten eingezeichnet. Ein Nebenprodukt dieses lexikalischen Ansatzes ist die in den vielen Antworten ersichtliche lautliche Varianz, so daß auch dieser Atlas mehr bietet, als sein Name andeutet. Auch dieser weltweit umfangreichste Wortatlas wurde zum Vorbild vieler anderer wortgeographischer Unternehmungen, wie meine Bibliographie zeigt.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir endlich technische Ressourcen, die es gestatten, die vielfarbig kolorierten handgezeichneten Sprachatlas-Karten nicht nur zu scannen und sogar zu drucken, sondern auch per Internet weltweit zugänglich zu machen. Der im Jahre 2000 von Jürgen Erich Schmidt initiierte, in Teilen bereits fertige Digitale Wenker-Atlas bewältigt als derzeit größtes sprachgeographisches Projekt eine Gesamt-Datenmenge von rund einem Terabyte. Soweit Tonaufnahmen vorliegen, werden auch sie integriert und können zu bestimmten Ortspunkten abgerufen werden. Dank eines sogenannten Taggings lassen sich sogar einzelne Wenkersätze bzw. Phrasen gezielt anhören. Da jeder Ortspunkt geodätisch exakt positioniert ist, können beliebige andere Themenkarten als Overlays über die originalen Wenker-Karten gelegt werden, was ergänzende Informationen oder diachrone Vergleiche ermöglicht. In Bezug auf ergänzende Daten und Fakten verweise ich auf den ausführlichen Mundart-Themenbereich meiner Website.

Im zweiten Teil meines Überblicks komme ich zu meinem eigentlichen Anliegen, der auditiven Seite der Mundarten. Hier will ich, wie oben erwähnt, die Mundarten so vermitteln, daß auch jemand, der nur wenig oder kein Deutsch versteht, etwas davon hat und in der Lage ist, aus dem akustischen Erleben und aus dem Hörvergleich heraus etwas von den Beispielen zu verstehen und einige Lautsequenzen sogar als "musikalische Ereignisse" im Gedächtnis zu behalten.

Alle schriftlichen Dokumentationen (vgl. meine "Beispiele deutscher Mundarten") sind zwar insofern wichtig, als sie phonematisch und morphologisch wichtige Strukturen´aufzeigen, doch selbst wenn die Mundarten in der präzisen, sogar die Allophone berücksichtigenden API-Lautschrift erscheinen, können sie von dort aus nur dann authentisch reproduziert werden, wenn ein kompetenter Mundartsprecher rezitiert. Der Grund dafür liegt in suprasegmentalen Daten, also Akzent, Druckstärke, Tonhöhe und Satzmelodie, die, ähnlich der englischen falling oder rising tune, das prosodische Element der Sprachäußerung bilden. Diese Prosodie kann schon verraten, woher ein Sprecher kommt, so zum Beispiel mit der singenden Intonation des Rheinländers, der sog. Rheinischen Schärfung in folgendem Beispiel aus dem sog. Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten.

mp3 Rath Heumar / Porz am Rhein (241 / K'9,4+9; Nachbearb. 32 kBps, 16.10.2k1)

Musikalischer Ansatz

"Die landschaftliche Wesensart deutscher Menschen äußert sich etwa in dem hier und dort verschiedenen Tempo der Rede, im dynamischen und musikalischen Akzent" (Adolf Bach, Deutsche Mundartforschung, 3. Aufl. Heidelberg 1969, S. 288)

Sprache, das hörten wir, hat vieles mit der Musik gemein. Das drückt sich auch aus in vielen "musikalischen" Redewendungen. Der Ton, sagt ein deutsches Sprichwort, mache die Musik. Gemeint sind damit alle konstitutiven Elemente der Sprachäußerung, die eine Aussage gestalten, damit aber auch der Tonfall, ob fordernd oder eher bescheiden, in dem wir ein Anliegen vortragen. So, wie wir sprechen, ob hektisch, unsicher oder eher ruhig und in Balance, so werden wir angesehen und beurteilt, vor allem in rein akustisch bestimmten Situationen, also etwa am Telefon oder im Gespräch mit einem Blinden. So wird neben Wortwahl und Idiomatik die Prosodie unserer Sprache und damit unserer Dialekte zum Schlüssel ihrer Wirkung und Akzeptanz.

Einige Beispiele sollen aufzeigen, was Sprache und Musik gemeinsam haben in bezug auf Möglichkeiten der Variation. Beispiel 1 basiert auf Antonio Vivaldi's (1678-1741) Concerto für 2 Violinen und Streicher op. 3,8 (RV 522) aus dem Zyklus "L'estro armonico". Die ersten Takte von Satz 1 spiele ich nun von einer Midi-Datei, wo der Klang eines Cembalos imitiert wird // oder schneller:
Das barocke Original wird nun gespielt

Als zweites Hörbeispiel nehmen wir die Ouvertüre zu Bachs selten gespieltem Osteroratorium; in meinem Mitschnitt von 1995 spielen es Mitglieder des Radiosinfonieorchesters Prag auf modernen Instrumenten:

Siegfried Heinrich, der auch diese Aufführung leitete, spielt die Ouvertüre im Frühjahr 2004 mit dem Main-Barockorchester auf historischen Instrumenten (siehe mein Foto rechts), so, wie es Bach selbst aufgeführt und gehört hätte:

Wir haben nun unseren akustischen Sinn geschärft und können feststellen:

  1. ein musikalisches Thema (oder, einfach gesagt, eine Melodie) klingt so, wie sie interpretiert wird, also abhängig von:
    a) der Phrasierung, d.h. wie hier Tempo und Akzente gesetzt werden,
    b) der Instrumentierung (also von welchen Instrumenten dier Melodie gespielt wird)
    c) möglichen Verzierungen oder Ornamenten (d.h. wie und ob die Melodie mit zusätzlichen Elementen ausgeschmückt, also in ihrer Morphologie verändert wird; im Barock hatte der ausübende Musiker das Recht, solche Ausschmückungen beim Spielen selbst vorzunehmen)
  2. ein musikalisches Werk wird nach 1a) bis 1c) so interpretiert, wie es der Auffassung des Dirigenten oder Spielers entspricht. Dabei können der heimatliche Kulturkreis der Künstler und kulturgeschichtliche Aspekte durchaus eine wesentliche Rolle spielen. So klang Bachs Matthäuspassion, als sie von Felix-Mendelssohn Bartholdy (1809 - 1847) wiederentdeckt und aufgeführt wurde, sicherlich anders als bei Bach und in einer heutigen Realisation, wir sprechen z.B. von "romantischer Auffassung" im Orgelbau oder von "Werktreue" bei musikalischen Aufführungen.

Nun können wir das soeben aus der Musik Gelernte auf die Sprache übertragen. Ein in der Standardsprache formulierter Wenker-Satz wie

Du bist noch nicht groß genug, um eine Flasche Wein allein auszutrinken, du mußt erst noch wachsen und größer werden.

entspricht unserem musikalischen Thema in der originalen Notation, wie wir sie als Midi-Datei gehört haben. Dialektale Varianten wie z.B.

26789 Leer (Ostfriesland)  - Ostfriesisch oder
Mamer b. Luxembourg - Lëtzebuergesch

entsprechen den oben unter 1a) bis 1c) genannten Möglichkeiten der Interpretation, und zwar:
       1a) Phrasierung = Suprasegmentalien (Akzent, Druckstärke, Tonhöhe) oder: Intonation
       1b) Instrumentierung = phonologische Merkmale (Mundartlautung)
       1c) Verzierungen = morphologische Merkmale, z.B. besondere Formen der Flexion und Wortbildung

Hinzu kommen als in der Musik fehlende Merkmale:
       1d) Variationen der Lexik (z.B. Gaul / Roß / Mähre für Pferd)
       1e) Variationen des Ausdrucks bzw. der Idiomatik (z.B. do legst di nieder oder do leckst mi am Orsch für 'ich bin erstaunt')
       1f)  Variationen in der Syntax, z.B. gestern war ich in Darmstadt gewesen (Plusquamperfekt statt Imperfekt)
              oder: gestern habe ich hier keinen Menschen nicht gesehen (doppelte Verneinung im Bairischen)

Mundart-Hörbeispiele
Betrachten wir nun nochmals in 3 Sprachen den uns schon bekannten Wenker-Satz 16:

Wir hören uns die nachstehenden Beispiele an und vergleichen Sie mit dem Englischen und Niederländischen; im niederdeutschen Gebiet klingen, wie Sie hören werden, die Mundarten ähnlich wie das Englische und werden, auch wenn man nicht Deutsch versteht, trotzdem verständlich.

  1. Lindholm bei 25899 Niebüll - Nordfriesisch
  2. 26789 Leer (Ostfriesland)  - Ostfriesisch
  3. St. Annen bei 25746 Heide - Dithmarsisch, vgl. Klaus Groth
  4. 26160 Bad Zwischenahn-Rostrup - Ammerländisch
  5. 26676 Barßel-Harkebrügge - Nordniederdt. III
  6. 23966 Wismar - Mecklenburgisch-Vorpommersch (ehemals DDR)
  7. Pyritz / Langenhagen (Mittelpommersch, jetzt auf poln. Gebiet)
  8. Hammerstein / Schlochau - Ostpommersch (jetzt auf poln. Gebiet)
  9. Eisenbarth / Bartenstein (Bartoszyce) - Niederpreußisch (jetzt auf poln. Gebiet)
  10. Gumbinnen (Gusew) - Niederpreußisch II (Ostpreußen)
  11. Allenstein (Olsztyn) - Hochpreußisch (also mit p/t/k-Lautverschiebung)
  12. Großhain bei Waldenburg - Niederschlesisch (jetzt auf poln. Gebiet)
  13. Kuhnern Krs. Neumarkt - Niederschlesisch II
  14. 59227 Ahlen-Vorhelm b. Münster i.W. - Westfälisch I (Münsterländisch)
  15. 34508 Willingen - Westfälisch II (Waldeckisches Upland; hier findet seit einigen Jahren ein FIS-Skispringen statt)
  16. 34477 Twistetal-Berndorf - Westfälisch III (Waldeck, Twiste-Tal)
  17. Groß Brunsrode b. 38100 Braunschweig - Ostfälisch
  18. 52428 Jülich-Lich-Steinstraß - Ripuarisch
  19. 54518 Altrich / Wittlich - Moselfränkisch (werden = günn)
  20. Mamer b. Luxembourg - Lëtzebuergesch (werden = ginn)
  21. 04808 Wurzen bei Leipzig - Obersächsisch (früher: DDR)
  22. 09456 Annaberg - Obererzgebirgisch; auch P'43,8 Schwarzenberg (süffeln = 'trinken' wie in [21])

Im Vergleich mit dem Deutschen, Englischen und Niederländischen

           Du bist noch nicht groß genug, um eine Flasche Wein allein auszutrinken, du mußt erst noch wachsen und größer werden.
           Jij bent nog niet groot genoeg om een vles wijn leeg te drinken, je moet eerst nog een beetje groeien en groter worden.
           You aren't tall enough yet to empty a bottle of wine; you have to grow a bit and get taller first.

hören wir auch folgende Beispiele:

  1. Armsfeld südl. 34557 Bad Wildungen - Nordhessisch; vgl. 35066 Frankenberg-Geismar
  2. 34633 Ottrau-Immichenhain (Link1, 2) - Niederhess.: Ostschwalm; Wein > Wing
  3. 35274 Kirchhain-Großseelheim - Zentralhessisch I
  4. 35043 Marburg-Bortshausen - Zentralhessisch II
  5. Stockhausen b. 36341 Lauterbach - Osthessisch
  6. 60323 Frankfurt/Main (-Bornheim) - Frankfurter Stadtsprache
  7. 68649 Groß-Rohrheim - Südhessisch
  8. 67472 Esthal b.Lambrecht, Pfälzer Wald - Pfälzisch
  9. 76227 Karlsruhe-Durlach - (Süd[rhein]fränkisch, Badisch)
  10. 72213 Altensteig - Schwäbisch I (West-S., Nordschwarzwald)
  11. 72793 Pfullingen bei Tübingen - Schwäbisch II  (Mittel-S.;Inf. -trinket wie [16e])
  12. 71696 Möglingen Kr.Ludwigsburg - Schwäbisch III
  13. 88161 Lindenberg - Schwäbisch IV (Westallgäu; =>|Mittelalemann.)
  14. 86424 Dinkelscherben b. Augsburg - Schwäbisch V (=>|Mittelalemann.)
  15. Garitz bei 97688 Bad Kissingen - Ostfränkisch I (Unterfranken)
  16. 91301 Forchheim bei 90402 Nürnberg - Ostfränkisch II (Oberfranken)
  17. Kruppach südl. 92318 Neumarkt / Obf. - Nordbairisch (04/90, a.d. Sprachatlas von Nordost-Bayern)
  18. Mauern bei 85368 Moosburg - Mittelbairisch I (Holledau; => Lage)
  19. 83661 Lenggries (=> 83676 Jachenau) - Mittelbairisch II (in der Jachenau)
  20. A-9300 St. Veit a.d. Glan bei Klagenfurt - Südbairisch  I (Österreich, Mittel-Kärnten)
  21. A-6632 Ehrwald  Bezirk Reutte/Tirol - Südbair.  II (Österr., Tirol)
  22. Pfunders bei Brixen - Südbair. III (Oberitalien, Südtirol)

Im Vergleich mit dem Deutschen, Englischen und Niederländischen

           Du bist noch nicht groß genug, um eine Flasche Wein allein auszutrinken, du mußt erst noch wachsen und größer werden.
           Jij bent nog niet groot genoeg om een vles wijn leeg te drinken, je moet eerst nog een beetje groeien en groter worden.
           You aren't tall enough yet to empty a bottle of wine; you have to grow a bit and get taller first.

hören wir nun noch unsere letzten Beispiele:

  1. Pladen / I-32047 Sappada (Belluno) - Südbair. IV (Oberit., Veneto, Ost-Dolomiten)
  2. F-68200 Mulhouse (Mühlhausen) - Niederalemannisch
  3. Elsässerdietsch = Zweitspr. e. Frankophonen
  4. # Oberhomberg bei 88662 Überlingen - Mittelalemannisch
  5. CH-4416 Bubendorf (Baselland) - Hochalemannisch (Baseldütsch) -[k]-
  6. CH-4538 Oberbipp / Bern - Hochalemannisch (Bärndütsch)  -[kx]-
    --------- Auslandsdeutsche Mundarten ----------
  7. Gnadenhutten / Ohio - Pennsylvania German I, Aufnahme W. Näser, Marburg 26.4.2001
  8. Winnipeg / Manitoba - Mennoniten-Plautdietsch, Aufn. WN, Marburg 1986, Bearb. 8/98
  9. bei Hermannstadt (Sibiu) - Siebenbürger Sächsisch, Aufn. WN, Marburg 6.6.2001

Die Beispiele 3 und 7 unseres letzten Blocks stammen interessanterweise von Personen, die diese Mundarten als Fremdsprache erlernt haben.

Diese vielen Beispiele sollen aufzeigen, wie reichhaltig die Palette der deutschen Mundarten bis ins 20. Jahrhundert geblieben ist und welche markanten Unterschiede zu hören sind. Auffällig ist:

Weitere Daten und Aussagen finden Sie in meiner vollständigen, ausführliche Hörbeispiel-Tabelle, in der sich auch Beispiele zur Mundartdichtung finden und aus einer höchst interessanten Sammlung, dem sogenannten Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten. Diese Sammlung wurde aus politischen Gründen mehrere Jahrzehnte lang im Verborgenen gelassen, verdient dies aber nicht, denn sie ist die erste akustische Auswahldokumentation deutscher Mundarten aus allen Hauptgebieten (main regions) in einer technisch akzeptablen Qualität. Obwohl diese Aufnahmen mittlerweile siebzig Jahre (!) zurückliegen, klingen sie doch erstaunlich gut, vor allem wenn sie, wie ich es getan habe, mit modernsten computativen Algorithmen bearbeitet habe. Und diese Bearbeitung führt uns zum letzten Aspekt unseres kleinen Vortrags, der

akustischen Präsentation deutscher Mundarten.
Wie öfter betont, wirken deutsche und andere Dialekte als primär gesproche Sprachformen nur dann, wenn sie korrekt gelautet und gehört werden. Angesichts der gegenwärtigen Forschungslage kann dies nicht oft genug betont werden.

Die akustische Perzeption kann nur dann funktionieren, wenn alle jene Laute gehört werden, die eine Mundart konstituieren, d.h. alle Obertöne bzw. Formanten, die einen Laut als solchen und als allophonische Variante erkennbar werden lassen. Wie wir aus der angewandten Phonetik wissen, liegen bestimmte Formanten, z.B. die zur Unterscheidung von /s/ und /f/ wichtigen, etwa bei 3 kHz, also muß das Audio-Frequenzband unserer Präsentation mindestens bis dorthin reichen, das entspräche etwa einer akzeptablen heutigen Telefonqualität, wenn wir von der digitalen Technik ausgehen (die früheren analogen Telefnnetze hatten eine bessere Tonqualität mit Obergrenzen von 6 kHz oder mehr). Beispiele für akzeptable Hörbeispiele finden sich an vielen Stellen meiner Homepage wie in der Sammlung Varietäten des Deutschen.

Als Wenker seinen Sprachatlas konzipierte, konnte man die tonalen Elemente nicht zufriedenstellend dokumentieren; der seit 1899 eingesetzte Phonograph arbeitete rein mechanisch und erfaßte nur einen sehr begrenzten Hörbereich. Wie meine mühsam rekonstruierte Aufnahme des österreichischen Kaisers Franz Joseph von 1903 zeigt, hat man große Mühe, einzelne Wörter zu verstehen, andererseits ist bei konzentriertem Hinhören der typisch wienerische Tonfall schon erkennbar. 1926, als Ferdinand Wrede seine denkwürdigen Ausführungen zur Sprache und Nationalität in den Phonographentrichter sprach, hatte diese Technik ihren Höhepunkt erreicht, erfolgte aber auch schon der längst fällige Übergang zur elektrisch verstärkten Tonaufnahme, und nur zwei Jahre später erfand Georg Neumann das revolutionäre Kondensatormikrofon, das uns bis heute in Film, Funk und Fernsehen einen perfekten Ton beschert. Mit der von Braunmühl und Weber 1940 realisierten Hochfrequenz-Vormagnetisierung wurde das in Deutschland schon 1935 präsentierte "Magnetophon" zum Aufnahmegerät der ersten Wahl, und schon 1943 machte die Reichsrundfunkgesellschaft die ersten Vollstereo-Aufnahmen in HiFi-Qualität; es dauerte aber sehr lange, bis auch die Dialektforschung den Reiz der Stereophonie erkannte.

Grundsätzlich unterscheiden müssen wir zwischen akustischer und mentaler Perzeption und nehmen dafür wiederum die Laute /f/ und /s/ wie im Minimalpaar gereift / gereist (das Korn ist nun gereift / Herr Korn ist nun abgereist). Wer Deutsch als Muttersprache verwendet, hat keine Probleme, diese beiden Laute zu erkennen und damit die von ihnen repräsentierte Semantik, auch wenn die Tonqualität nicht ausreicht, die zugehörigen Formanten hörbar zu machen. Der Muttersprachler erschließt die Bedeutung von reisen / reifen aus dem Kontext, korrigiert also mental, indem er sein als Teil der Sprachkompetenz erworbenes Lexikon befragt. Schwieriger hat es jemand, der das Deutsche als Fremdsprache erlernt und gewisse idiomatische Wendungen bzw. Zusammenhänge nicht kennt. Dem unerfahrenen Fremdsprachler fehlt nicht selten die Fähigkeit zur mentalen Korrektur, er benötigt daher dringend den vollen Frequenzumfang, um eine fremdsprachliche Äußerung fehlerfrei zu decodieren.

In den letzten zehn Jahren haben wir von revolutionären Versuchen gelesen und gehört, wie mit computativen Mitteln Sprachdateien so komprimiert werden können, daß sie bei einem winzigen Bruchteil ihrer Größe dennoch verstanden werden können. Es wurden verschiedene Verfahren bzw. Algorithmen entwickelt, die ich hier beschrieben habe.

Hören Sie als letztes Beispiel hochkomprimierte Wenker-Sätze. Pre-Emphasis und Korrelation der 6/91 mit Eigenbau-Einpunkt-Stereomikrofon (zwei schwenkbare Kugel-ECM-Zwillingsmodule auf Traverse) und TCD5M gemachten analogen Aufnahme sind anscheinend so günstig, daß selbst bei 285-facher Reduktion (5 kbps mono, 133.300 Bytes) erzeugte Real-Audio-Datei noch gut durchhörbar ist und ebenso neutral wie natürlicher klingt. Der muttersprachliche und dialektgeschulte Hörer wird hier sogar noch heraushören können, um welchen Dialekt es sich handelt: das Mittelhessische (hier gesprochen von einem Sprecher aus Großseelheim bei Marburg).

Dialekte sind und bleiben ein kostbares Dokument der über 1200 Jahre úmfassenden deutschen Sprach- und Kulturgeschichte. Akzent, Intonation, Lautung lassen noch immer erkennen, aus welchen deutschen Landen jemand kommt. Die Mundarten sind farbenreich, ausdrucksstark und schaffen Identität. Mundarten sind der akustische Ausdruck regionaler Vielfalt und Kultur. Sie sind der vielfarbene Garten deutscher Sprache. Ich hoffe, daß ich Ihnen ein wenig davon vermitteln konnte und Sie ein auch paar deutsche Mundartlautungen als Kleinodien deutscher Sprache im Gedächtnis behalten.

                                                                                                      *-*-*-*-*

Änderungen und Ergänzungen vorbehalten. Stand: 16. Mai 2010