Ein Text vom Frühjahr 2013
Wolfgang Näser, Marburg
War das ganze Leben eine Suche nach Wahrheit, Liebe und Schönheit
und ist es am Ende auch nur ein wenig gelungen, diese zu erschließen,
dann hat es sich gelohnt, Wacken und Klötze wegzuräumen
und auch mal tiefe Täler zu durchschreiten.
Hier geht es weder um eine wissenschaftliche Theorie noch zitiere ich Koryphäen und sonstige "Leuchttürme", und dennoch haben meine Erinnerungen und Reflexionen viel zu tun mit Wissenschaft, mit meinem (manchmal verschlungenen) Zugang zu ihr und mit der Universität, der ich viel verdanke, hat sie doch mein Leben entscheidend geprägt, und deshalb gehört dieser Text in meine Uni-Homepage hinein, deren Gewährung ich wiederum dem Marburger Hochschul-Rechenzentrum verdanke, vor dessen Mitarbeiter/innen ich mich verneige.
Es war am 22. Dezember 1972, als ich, zusammen mit der Protokollantin, an einem klirrend kalten Winternachmittag Professor Josef Kunz in Hofheim / Taunus besuchte. Bei Kaffee und Kuchen prüfte er mich eine halbe Stunde lang über Franz Kafka und die deutsche Novelle. Das war der Schlußteil meines Rigorosums (es gab noch nicht die Renaissance der Disputatio), das einen Tag zuvor mit den jeweils einstündigen Examina bei den Professoren Kurt Otten (Anglistik) und L.E. Schmitt begonnen hatte. Danach gingen wir in den ersten Stock, Prof. Kunz zeigte uns seine elektrische Orgel, und wir fuhren im Dunkeln nach Marburg zurück. Hinten im Kofferraum meines schon mit UKW-Funk ausgestatteten Fiat 128 lagen, unter einer Decke, die ersten 5 frisch gedruckten Exemplare meiner Diss., deren erstes Exemplar ich, ganz nach Plan, meinen Eltern unter den Weihnachtsbaum legen konnte.
Nun sind 40 Jahre vergangen - manchmal denke ich: wie ein Windhauch, dann wiederum wird bewußt, wie voll gepackt diese vier Dekaden doch waren. Die Rückschau auf diese Periode und die weiter davor liegende Zeit offenbart einen etwas verschlungenen, zum Teil auch steinigen Weg, der zur Uni Marburg führte, schließlich zur Promotion, zu fast 37 Jahren im Deutschen Sprachatlas und zu 35 Jahren universitärer Lehre.
Mit 17 Jahren Abitur, mit 21 Jahren Examen und kurz darauf Doktor, nein, das kann ich nicht vorweisen. Kurz nach dem 21. Geburtstag hatte ich erst meine 18 Monate Bundeswehr hinter mir, die mir zwar viele wichtige Lebenserfahrungen vermittelt, mich aber intellektuell gesehen um mindestens ein Jahr zurückgeworfen hatten. In der gegenwärtigen Bildungs-Diskussion wird dann und wann behauptet, Armut oder "eine falsche Familie" seien Hinderungsgründe für gymnasiale oder gar universitäre Bildung und damit einen entsprechenden sozialen Aufstieg. Nun, dann war ich offenbar unter sehr ungünstigen Bedingungen aufgewachsen: in einer Kleinstadt (Arolsen) mit gerade 5000 Einwohnern und als (einziges) Kind von Eltern ohne Abitur, und es gab keinen akademischen "Hintergrund", der so oft beschworen wird bei den bisweilen als "Alpha"-Menschen hochgelobten Früh-Karrierist/innen. Mit 17 ging ich ganz normal zur Schule, gab viele Nachhilfestunden, erkundete das Waldecker Land per Fahrrad, bastelte mit Widerständen und Röhren und half meinen Eltern in unserem kleinen Geschäft. Auch arbeitete ich mal für etwas mehr Taschengeld in einem Betonsteinwerk. Kurz vor dem Abitur (das ich als einer der Besten bestand) verlegte ich im Keller unseres neu erbauten Hauses die gesamte Elektro-Installation. Wissenschaftliche Arbeitsweisen und Theorien? Konnten mir meine Eltern nicht vermitteln, doch, und das schätze ich noch heute als viel essenzieller, konnten sie mir zeigen, wie man mit Fleiß etwas erreicht, und sie konnten mir Liebe geben.
Alle wichtigen Anregungen und Impulse erhielt ich an der Christian-Rauch-Schule in Arolsen von Lehrerinnen und Lehrern, an die ich mich noch heute gern erinnere. Hier erwuchsen die Liebe zum Deutschen und anderen Sprachen, erfuhr ich von kühnen Vorhaben der Physik, fand einen Zugang zu den Geheimnissen der anorganischen Chemie und, dank dem unvergessenen Musikdirektor Dietrich Krüger, zur Klassischen Musik. Die Schulzeit legte den Keim zu einer schon damals beachtlichen Vielseitigkeit, die mir später die Berufswahl und das Zurechtfinden an der Hochschule erschweren sollte. Ich kann mir dich vorstellen als Assistent eines Professors, sagte mein damaliger Lateinlehrer Franz Marterer, später liebäugelte ich mit technischen Berufen und wollte, kurz vor dem Abitur gefragt und schon ganz im Eifer meines Tonband-Hobbys, Tonmeister werden - wovon man mir abriet, von wegen der damals für Krankheit anfälligen Ohren. Gut, die Liebe zu den Sprachen obsiegte, was ich nicht unwesentlich unserem damaligen, noch blutjungen Klassenlehrer Otto Brett (Bild rechts vom 29.6.2003!) verdanke, der uns mit viel geistvollem Humor und in vorbildlicher Kameradschaft zum Abitur führte.
Ich wollte Englisch und Französisch für das Lehramt studieren, und dann, kurz nach dem Abitur, wurde ich einberufen und, wie ein Stück Vieh, mit meinen Leidensgenossen auf einem Lastwagen vom Hauptbahnhof zur Göttinger Ziethen-Kaserne transportiert; kurz darauf traf dort der zerstückelt entwertete Marburger Studentenausweis ein, zum Heulen.
Alles andere hatte ich in jenen achtzehn Monaten getan außer studieren und / oder mich mit wissenschaftlichen Theorien und Arbeitsweisen zu beschäftigen, hatte genug zu tun gehabt mit der (schließlich gelungenen) Anpassung an die aus verschiedensten Schichten und Lebensbereichen kommenden Kameraden, bis zuletzt hatte ich mit fünf anderen in einer "Stube" zugebracht und dann dem Panzerbataillon 44 Ade gesagt.
Obzwar sie mich wie nichts anderes entwöhnte von Atmosphäre und Technik des schulischen Lernens und insofern den Übergang zur Universität erschwerte, war und bleibt die Bundeswehrzeit für mich eine wichtige Periode der Selbstfindung und vieler guter Erfahrungen im praktischen Leben. Als ich von ihr Abschied nahm, hätte man mir das Zeugnis der Reife jetzt mit einigem Recht geben können.
Zum Wintersemester 1964/65 wurde ich (unter deren Rektor Prof. Niebergall) im neuen, eleganten Verwaltungsgebäude der Marburger Philipps-Universität für ein Lehramts-Studium in den Fächern Germanistik und Anglistik immatrikuliert; zuvor arbeitete ich, um die Zwischenzeit sinnvoll auszufüllen, den ersten von insgesamt 22 Monaten beim Internationalen Suchdienst des IKRK Genève in Arolsen.
Intellektuell gesehen erschien der Studienbeginn wie ein Sprung ins kalte Wasser. Zunächst einmal galt es herauszufinden, was das viel verwendete "relevant" bedeutet, dann, was, literarisch gesehen, man unter "interpretieren" versteht. Ein als Tutor arbeitendes höheres Semester zeigte uns die unermeßlich scheinenden Bestände der altehrwürdigen germanistischen Bibliothek "Am Plan" in Marburg. Knarrende Dielen, Regale mit einer Unzahl geheimnisvoller Signaturen. Oben, im ersten Stock, waren die Zimmer des Ordinarius und der Assistenten; ab und zu ging einer nach draußen und genoß die frische Luft.
Würde ich dort jemals heimisch werden? War ich hier, in der Geisteswissenschaft zu Hause? Wo ich doch, an den Wochenenden in Arolsen, lieber an elektrischen Schaltungen werkelte, meinen selbstgebauten NF-Verstärker und einen kleinen Mittelwellensender zu verbessern suchte? Und zwischendurch, in den Semesterferien, immer wieder zwei oder drei Monate Vollzeit beim Suchdienst, wo ich es mit Fleiß und Können zum höchstbezahlten Studenten brachte, der kurzzeitig in der Übersetzergruppe in englischer und französischer Korrespondenz die Arbeit zweier kranker Kolleg/innen mit erledigte und eine 170 Seiten lange Übersetzung des in der "Times" abgedruckten Prozesses "Dering vs. Uris" fertigte. Im Suchdienst, dessen Atmosphäre und Arbeit mir so gut gefielen, daß ich allen Ernstes in Erwägung zog, dort zu bleiben, bis mir der gütige Direktor zu verstehen gab, es sei doch besser, das Studium fortzusetzen.
Und so reichte nun meine Bandbreite von der tragischen Größe im "Prinzen von Homburg" bis zum Problem der Ankopplung des Schirmgitters bei der AG2-Modulation eines Kurzwellensenders, von der Handlungsführung im "Joseph Andrews" bis zur Entbrummung im Heizkreis des "Magnetophons KL 65 KS", von Problemen der Förderstufendidaktik bis zur Effektivität eines Öldruck-Ausgleichsbehälters im Mororraum meines mittlerweile zehnjährigen Fiat 600. (Erinnerungen, 1987)
Die zwei Seelen in meiner Brust, nämlich die Liebe zu den Sprachen und der Hang zum Technisch-Ingenieurmäßigen, waren im Sommer 1966 so heftig in Widerstreit geraten; daß ich nach vergeblichen Bemühungen, den Sinn des Spekulativen in der Geisteswissenschaft nachzuvollziehen, nicht wenig Lust verspürt hatte, diesem Studium den Rücken zu kehren. Andererseits gab es manch interessante und, aus späterer Sicht exotisch erscheinende Lehrveranstaltung, so vermittelte uns im SS 1965 der Gießener Lehrbeauftragte und spätere Marburger .Oberbürgermeister Dr. Hanno Drechsler, der uns mit "Herr Kommilitone" anredete, die Grundlagen der Wissenschaft von der Politik und gab es im WS 1967/68 ein erziehungswissenschaftliches Proseminar zum Fremdsprachenunterricht, in dem Dr. Reinhold Freudenstein, damals Klafki-Assistent, uns eine Vision eröffnete: irgendwann, sagte er, werde es in jedem Studentenzimmer einen Bildschirm geben, über den man alle wichtigen Informationen abrufen könne - er war gerade aus den USA zurückgekehrt.
Ein Meilenstein war, im Frühjahr 1967, zweifellos die neunwöchige Hospitation an "meiner" Schule. Mein ehemaliger Deutschlehrer Georg Bonin gab mir seine Sexta, die durfte ich sechs Wochen völlig frei und selbständig unterrichten, hernach kamen die lieben Kleinen mit ihren Poesiealben, in die ich mit Freude kleine Widmungen eintrug; ich wäre damals am liebsten dort geblieben und hätte weiter unterrichtet. Ganz zum Schluß etwas damals auch für diese Schule Neues: oben im Physiksaal des Neubaus präsentierte ich den Amateurfunk, mit meinem Eigenbau-Kurzwellensender und einer provisorisch über den Schulhof gespannten Langdrahtantenne. Wieso Amateurfunk? Ich hatte im Sommer 1966 ganz nebenbei Technik, Morsen und Gesetzeskunde gepaukt und schließlich am 21. Oktober bei der Oberpostdirektion in Frankfurt meine Funklizenz erworben. Und war kurz darauf mit meinem Kommilitonen Karl-Heinz Adolph für einen Tag zum HR in Frankfurt gefahren, wo er als Nachrichtensprecher arbeitete; dieser nur kurze Besuch inspirierte dazu, von meiner Amateurfunkstelle aus allsonntägliche Rundspruchsendungen durchzuführen, mit Pausenzeichen, Nachrichten und Musikeinlagen, Hörberichte kamen auch aus dem Ausland. Zu dieser Zeit nahm ich teil an einem linguistischen Hauptseminar, in dem es unter anderem um "Mathematik und Dichtung" ging und komplizierte syntaktische Gebilde nach allen Regeln der Kunst analysiert wuerden. In der Anglistik hatte ich es übrigens schon im 3. Semester geschafft, an einem von Kurt Otten geleiteten Hauptseminar über Chaucers Canterbury Tales teilzunehmen.
In jenem noch immer kritischen Jahr 1967, in dem ich rund 3.000 Funkverbindungen tätigte und an dessen Ende ich mit meinen 24 Jahren Vorsitzender des DARC-Ortsverbandes Arolsen werden sollte, kam, wie ein Wunder, Josef Kunz' Vorlesung über Heinrich von Kleist. Das war der endgültige Wendepunkt, und deswegen gedenke ich noch heute, nach all den vielen wechselvollen Jahren, dieses so liebenswerten, großartigen und menschlichen Hochschullehrers ebenso wie meines akademischen Lehrers Ludwig Erich Schmitt, dessen Hauptseminar über König Rother ebenfalls tiefe Spuren hinterließ. Ebensolchen Dank schulde ich dem charismatischen Pädagogen Wolfgang Klafki und seiner Vorlesung über Herbart. Meine pädagogische Zulassungsarbeit befaßte sich mit der Reform der gymnasialen Oberstufe nach der Saarbrücker Rahmenvereinbahrung. An einem extrem heißen Junitag 1968 bestand ich mein Pädagogikum und war nun cand.phil. Auf dem Arolser Marktplatz und an anderen Stellen prangte mein viersprachiges Plakat "Amateurfunk- Brücke zur Welt" und im Frühherbst 1968 erhielt ich als erster Arolser die Goldene Leistungsnadel des Deutschen Amateur-Radio-Clubs.
Was, könnte man nun fragen, hat letzteres mit Wissenschaft zu tun und warum tut sich ein angehender Deutsch- und Englischlehrer so etwas an? Wieso das alles, damals schon neun Jahre Erfahrung mit einem Telefunken-Tonbandgerät, das ich 1968 bis zur möglichen Grenze umgebaut und in dessen Rahmen mit der Telefunken AG korrespondiert hatte, wieso die intensive Beschäftigung mit angewandter Hochfrequenztechnik? Die einzige und, wie ich denke, valide Rechtfertigung besteht darin, daß ich bereits damals versuchte, verschiedene Bereiche sinnvoll zu kombinieren und das auf dem einen Feld an Erfahrungen Gewonnene auf dem anderen Feld einzubringen. Die Gesetze der funktechnischen Kommunikation "füttern" die nachrichtentechnische Theoriebildung ebenso wie die Gesetzmäßigkeiten der Ton-Modulation die praktischen Gegebenheiten der angewandten Phonetik. Letzterer Bereich blieb mir, was ich immer wieder bedauerte, leider verschlossen. Es sollte anders kommen, in dieser Kette gesteuerter Zufälle.
Schmitts Hauptseminar über den "König Rother" eröffnete mir die bislang noch weithin unbekannte Welt der mittelhochdeutschen Dichtung und speziell die der sogenannten Spielmannsepik. Meine auch hier strukturell bestimmte Herangehensweise ließ mich das Thema "Sachbeschreibung" wählen. Hier gibt es klare sprachliche Muster, enorm leistungsfähige syntaktisch-rhetorische Bauelemente, hier lassen sich klar definierbare Resultate erarbeiten. Später ermutigte mich Schmitt, diese Forschungen auf die ganze Spielmannsdichtung auszuweiten, also den Herzog Ernst, den Orendel, die Oswald-Dichtungen und Salman und Morolf einzubeziehen.
1969, im für mich studienmäßig und nachrichtentechnisch gleichermaßen interessanten und wichtigen Jahr, führte ich im Mai unsere Arolser Funkamateure nach Köln (Studios) und Jülich (Sendeanlage) zur Deutschen Welle, die über gigantisch anmutende Antennen-Wände schon damals in 35 Sprachen alle Kontinente mit Nachrichten und kulturellen Features versorgte. Alle Studierenden erlebten eine Sternstunde der internationalen Raumfahrt und Technikgeschichte, als wir Ende Juli mitten in einer Vorlesung vernahmen "the Eagle has landed": die ersten zwei Menschen hatten die Mondoberfläche betreten. Im August erwarb ich für selbstverdiente 800 DM ein ungeheuer innovativ und vielseitig wirkendes großes Tonbandgerät, das NordMende 8001/T4, um es auch innerhalb des Studiums medial einzusetzen; ich nahm es mit ins Englische Seminar, um dort zusammen mit dem Lektor Hans.Otto Thieme und dem Leiter des Uni-Sprachlabors die Aussprachetests der Anglistik-Anfänger/innen auszuwerten. Im Herbst war ich dort Tutor geworden, betreute das Medienarchiv des Instituts und hielt später selbständige Grammatik-Übungen im Uni-Sprachlabor. Horst Oppel, der ebenfalls unvergessene, international renommierte Nestor der Marburger Anglistik, hatte den Arbeitsvertrag unterschrieben. Ihm verdanke ich Shakespeare-Vorlesungen und eine Altenglisch-Einführung, deren Eindrücklichkeit für immer in meiner Erinnerung festgeschrieben sind: das beweist schon die Tatsache, daß ich - im Gegensatz zu vielen Sprachphänomenen - bestimmte Flexionsendungen des Altenglischen bis heute nicht vergessen habe - überhaupt spielte die Grammatik schon immer eine übergeordnete Rolle in meiner sprachlichen Rezeption: das begann im Deutschunterricht der Sexta und Quinta, setzte sich fort im Lateinunterricht ab Quarta, war Gegenstand unzähliger Nachhilfestunden, die ich an den Nachmittagen gab und mit denen ich mir schließlich mein erstes gutes Mikrofon, das Telefunken D 19 B, finanzierte. Die Sprache als kreativer Baukasten, als künstlerisches System modularisierter Elemente, das war immer mein Thema, und das korrespondierte auch mit meiner technischen Sichtweise, mit Konzeptionen modularisierter Strategien in der HF- und NF-Technik. Die Theorie war lediglich ein Hilfsmittel, wogegen es mir immer auf die Praxis ankam: was kann man womit auf optimale Weise und mit geringstmöglichem Aufwand, also am effektivsten erreichen? Womit lassen sich Dinge voranbringen, Verhältnisse bessern? Und, das war mir klar, ergab sich aus aller wissenschaftlicher Beschäftigung, aus allem Studium die Verpflichtung, das Gelernte alsbald an andere weiterzugeben - egal wo, ob in der Schule, (wenn überhaupt, das war noch nicht klar) an der Universität oder in einem anderen Berufsfeld.
Meine Anglistik-Hilfskraft-Tätigkeit bereicherten zwei Ereignisse: die Teilnahme an einer Sprachlabor-Tagung in Erlangen (Sommer 1969) und einer mediendidaktischen Tagung im Internationalen Haus Sonnenberg (Frühjahr 1970), wo ich den charismatischen Gelehrten Mario Wandruszka kennenlernen durfte. Seine damals ironisch formulierte Kritik an Noam Chomskys wohl ursprünglich als Theoriebasis für Elektronenrechner konzipierter Transformationeller Grammatik teilte ich damals und teile sie noch heute; meine ganze Beschäftigung mit Sprache und Literatur habe ich bis heute immer primär als philologisch (und damit die Sprache als Kunstwerk) empfunden. Dies half mir auch, eine neue, zunächst als nicht gerade einfach empfundene, Herausforderung zu meistern, nämlich Literatur in einer Oberstufe zu unterrichten: diese stellte sich mir im Marburger Lessing-Kolleg, wo ich zweieinhalb Monate in den Sommer-Semesterferien arbeitete und Tonbandgerät und Overheadprojektor als didaktische Hilfsmittel einsetzte.
Wie schon angedeutet, war bislang noch längst nicht klar, wo ich einmal "landen" sollte. Ab WS 1970/71 hatte ich einen Vertrag als sogenannte Wissenschaftliche Hilfskraft , arbeitete als solche bis 9/1971 überwiegend im (noch teils kritisch betrachteten) Uni-Sprachlabor (Prof. Kurt Otten verglich es 1971 mit einer Melkmaschine) und gehörte zu den wenigen, die einen Generalschlüssel und damit auch den Zugang zur teuren Tonband-Kopieranlage besaßen. Dem Internationalen Suchdienst hatte ich (auch mit etwas Wehmut und schweren Herzens) im April 1970 Ade gesagt, nun galt es, das Staatsexamen vorzubereiten und, wie von Schmitt vorgeschlagen, das Sachbeschreibungs-Thema auf alle fünf Spielmannsepen auszuweiten. Es entstand eine über 400-seitige philologisch-stilistische Analyse (Schmitt: "Damit hätten Sie bei mir promovieren können"). Nach einer dreimonatigen Fristverlängerung bestand ich Anfang Juli 1971 das Staatsexamen; unmittelbar danach stellte ich meine schon damals sehr beachtliche Funkstation um auf Einseitenbandbetrieb und war gerade dabei, mir ein Netzteil für den Transceiver zu bauen, als Professor Schmitt aus Marburg anrief und mitteilte, die Bemühungen um eine Stelle im Sprachatlas seien erfolgreich verlaufen und ich könne im Oktober als Wissenschaftlicher Mitarbeiter BAT IIa beginnen. Der ehrwürdigen Alten Landesschule in Korbach hatte ich einen Besuch abgestattet, um den Gruß eines Sprachlaborkollegen auszurichten; der Direktor hatte angedeutet, ein Status als Wissenschaftlicher Mitarbeiter sei doch besser und angenehmer als wenn ich als Referendar beginnen müßte.
Als selbständige Mitwirkung an Projekten des Instituts wird meine Tätigkeit vertraglich definiert. Kaum habe ich den Dienst im Deutschen Sprachatlas begonnen, wird Anfang November 1971 das neue Sprachlabor der Philipps-Universität im Quergebäude Biegenstraße 12 eingeweiht; aufgrund meiner beratenden Mitarbeit in Sachen Video-Technik (Ampex-Verfahren) bin ich dazu eingeladen; ein noch heute im Sprachlabor vorhandenes Presse-Foto zeigt mich neben dem damaligen Uni-Vizepräsidenten Theodor Mahlmann. Die Sprachlabor-typische Arbeit mit den 4-Phasen-Drills hat in mir das Konzept eines Abspielverfahrens mit automatischer Pausen-Tilgung per Vortast-Kopf reifen lassen; die hohen Kosten halten mich davon ab, es zum Patent anzumelden.
Ich sei doch ein richtiger Medien-Mann, hatte L.E. Schmitt gesagt, als ich mich um die DSA-Stelle bewarb. In der Tat. 12 Jahre Erfahrung in Technik und Praxis der Tonaufnahme, Hospitation beim Rundfunk, mehrere tausend Funkverbindungen, konstruktionelle Arbeit an Audio- und Hochfrequenzgeräten, Geschäftsführung in einem Ortsverband des DARC. Und dazu zwei Jahre Sprachlabor. Ein Medienmann mit wissenschaftlichem Schwerpunkt in mittelhochdeutscher Sprachgestaltung. Und Kredit genug, daß mich Ludwig Erich Schmitt sogleich bat, ihn ab und zu in seinen Hauptseminaren und seiner Sprechstunde zu vertreten: eine große Herausforderung, die ich gern annahm. Eine weitere, für mich weniger angenehme, weil zu meiner Medienaffinität gänzlich inkompatible Herausforderung bestand darin, daß er mir eröffnete, ich solle mich fortan mit sogenannten altdeutschen Privaturkunden des 13.-15. Jahrhunderts befassen und Archivreisen unternehmen, alles für einen geplanten Historischen Deutschen Sprachtlas. Er und ich und eine spätere Hilfskraft, sonst gab es niemanden. Wir besuchten das damals von Fotomeister Gils geleitete, professionelle Fotolabor der Historiker, ich lernte viel über Arten und Technik alter Schriften, über Paläographie und Diplomatik und warum es so wichtig sei, die alten Pergamente sorgsamst und mit höchster Auflösung zu fotografieren, um ja keinen Haarstrich zu übersehen. Nicht nur in den von mir mitbetreuten Vorlesungen, sondern auch auf dem Gebiet der Urkunden taten sich neue "Welten" auf - faszinierende, wie ich feststellte, vermitteln diese Dokumente in ihrer "reduzierten Rhetorik" trotz aller juristischen Formelhaftigkeit eine damals sehr alltagsnahe Sprachgebung und alles, was sich an nichtsakralen Rechtshändeln und -geschäften abspielte.
Im Frühjahr 1972 erfuhr ich auf einer Tagung zum ersten Mal von den intensiven, EDV-gestützten Arbeiten zu einem Kleinen Deutschen Sprachatlas. Jahre später sollten einige Kollegen und ich intensiv die umfangreichen Computerausdrucke dieses Projekts korrekturlesen.
Gleichzeitig war ich dabei, meine Forschungen zur Sachbeschreibung in den Spielmannsepen zu einer Dissertation ausweiten. Als übrigens im Oktober meine erste Funkfernschreib-Zweiwegverbindung gelang, war die Konzeption der Diss. unter Dach und Fach und begannen die ersten Vorbereitungen für den Druck. Eine Zeit intensiven Arbeitens, kurzer Nächte, eines, wie es Kafka einmal nannte, wenig regelhaften "Manöverlebens", dessen Nachwirkungen ich noch im nächsten Frühjahr zu spüren bekam, als ich auf der Rückfahrt von einer Tagung zusammen mit Prof. Schmitt plötzlich auf der Autobahn anhalten mußte, weil die Augen so brannten, daß ich nicht mehr weiterfahren konnte - es dauerte lange, bis dieses Phänomen sich beruhigt hatte.
Die teils hochkomplizierten Wege und Techniken sachbeschreibender Syntax zu erkunden und ihre Darstellung zu vertiefen bereitete Freude. Mir, dem Praktiker, auch und gerade in Sachen Sprache, dem Stilisten und Grammatiker, der die Sprache begriff als Baukasten zur Herstellung unermeßlich vieler, kunstvoller, Gedanken, Gefühle, Konzeptionen Gestalt verleihender Zeichenketten. Mit einem Satz modularer Rotring-Federn entstanden entsprechende Strukturschemata, mit dem ersten für noch relativ viel Geld angeschafften elektronischen Tischrechner statistische Berechnungen; nicht vergessen wurde in einer Anmerkung der Hinweis auf spätere Forschungsmöglichkeiten mit den damals für linguistische Analysen bereits benutzten Großrechnern - insofern gelang ein, wenn auch winziger, Spagat zwischen traditioneller Mediävistik und innovativer Informatik.
Die in großer Eile vollzogene Promotion erwuchs auch aus der Ungewißheit, Ende 1972 nicht zu wissen, ob der zweite Einjahresvertrag im nächsten Jahr verlängert werden würde. Gottseidank zerstreuten sich bald diese Bedenken. Meinem Vorsatz, das wissenschaftlich Erworbene umgehend weiterzuvermitteln, gehorchte im Sommersemester 1973 meine erste Lehrveranstaltung zur Sprache in den Originalurkunden des 13.-15.Jahrhunderts, für die ich auch die spätere Professorin Dr. Hildegard Stielau von der Randse Afrikaanse Universiteit gewinnen konnte, die als Institutsgast aus Johannesburg angereist war. Die organisatorische Durchführung seines Doktoranden- und Habilitandenkolloquiums hatte mir L.E. Schmitt bereits Anfang 1973 angetragen.
Alsbald beginnen die Vorbereitungen zur für den September geplanten großen Exkursion der Professoren Schmitt und Pfister, die uns zu vergleichenden Dialektstudien in die Schweiz und Oberitalien führt und zu der ich später eine mediengestützte Nachbereitung präsentiere. Wie schön, dem Schweizerdeutschen wiederzubegegnen, als ich ein paar Monate später auf einer Wochenend-Städtereise in Zürich einen Exkursions-Schauplatz wiedersehe und die Tagung der Schweizerischen Amateurfunk-Fernschreibgruppe (Swiss-ARTG) besuche.
Trotz der unsicheren Arbeitsvertrags-Lage (Ketten-Jahresverträge) schlage ich im Frühherbst 1973 die durchaus lukrative und perspektivisch reizvolle Möglichkeit aus, als Nachfolger des prominenten Nachkriegs-Rundfunkpioniers und weltbekannten Radioamateurs Egon Koch (DL 1 HM) die Leitung der Technischen Pressestelle bei der ITT zu übernehmen: die Voraussetzungen, nämlich Kompetenzen sowohl im sprachlich-Journalistischen wie technisch-Ingenieurmäßigen, erfülle ich ja und hätte diese Stelle aller Voraussicht nach bekommen. Voller Hoffnung, hier progressive technische Konzepte in die angewandte Sprachwissenschaft einbringen und realisieren zu können, bleibe ich in Marburg - und entgehe damit einem ungewissen Schicksal, denn als ich 12 schwierige Jahre später im August 1985 der ITT in Pforzheim einen Besuch abstatte, um dort mein am umgebauten SL 700 und auch in Live-Aufnahmen erprobtes System zur andruckfilzlosen Bandabtastung ("NPT") vorzustellen, werden nur zwei Jahre vergehen, bis sich der Konzern umstrukturiert.
Im Wintersemester 1973/74 begann ich mit meinen Lehrveranstaltungen zur mittelhochdeutschen Sprache und Literatur, die meinen Studierenden und mir große Freude und uns eine Menge interessanter Proseminararbeiten bescherten. In Ansätzen struktureller und auch interpretatorischer Sprachbetrachtung konnte ich alles umsetzen und weitergeben, das ich während des Studiums in Vorlesungen, Übungen und Seminaren gelernt und in meiner Dissertation erarbeitet hatte. Auf dem technischen Sektor hatte sich vom Frühjahr 1973 an ein neues, faszinierendes Gebiet eröffnet: der Kurzwellen-Mobilfunk. Die in tausenden höchst informativer und technisch interessanter Funkverbindungen gemachten Erfahrungen führten mich zu dem Vorschlag, der damals bereits vielfach genutzten Strategie entsprechend für das Institut eine Amateurfunk-Sonderstation (mit Sonder-Rufzeichen) einzurichten und in diesem Rahmen nebenher per Funk sowohl Werbung für unsere durchaus auch modern ausgerichteten Projekte zu machen und ebenfalls per Funk Dialekt-Erhebungen durchzuführen ("Wie sagen Sie zu XY in Ihrer Mundart?") Ich beantragte und erhielt ein Sonder-Rufzeichen, für das ich mehrere Jahrzehnte aus eigener Tasche Lizenzgebühren entrichtete, doch wurde dem Vorhaben keinerlei Verständnis entgegengebracht, so daß kein einziger Funkkontakt durchgeführt werden konnte und eine innovative Konzeption von PR- und Forschungsarbeit ausgeschlagen wurde. Höhepunkt des Jahres 1974 ist im Juli mein Informations- und Forschungsaufenthalt in Südafrika, wo ich auch Radio RSA besichtige und in Interviews meine Eindrücke vermittle.
Konsequent parallel zum Arbeiten an den rechtsgeschichtlichen Sprachzeugnissen führten meine Lehrveranstaltungen einerseits bis zum "Sachsenspiegel" und andererseits im WS 1974/75 zu einem äußerst fruchtbaren Proseminar zur Historischen Linguistik, das ich auf der Basis ausgewählter Texte von Notker bis Martin Opitz gestaltete und das eine Reihe interessanter Arbeiten hervorbrachte. Weitere Lehrveranstaltungen hielt ich zur Lexikologie, wobei erstmals ausgewählte Fernschreib-Nachrichtentexte als Lehrmaterialien benutzt und auch die historischen Aspekte und die Fachsprachen gebührend einbezogen wurden, was sich später niederschlagen sollte in Glossaren zur Luftfahrt- und Funktechnik. In den Hauptseminaren L.E. Schmitts, denen ich unterstützend beiwohnte, erlebte ich in aller Gänze das umfassende, den üblichen Rahmen einer Professur sprengende Wissen dieses Hochschullehrers, des damals wohl einzigen Lehrstuhlinhabers für germanische Sprachen und Literaturen - und damit auch für das Niederländische; an einigen diesbezüglichen Prüfungen durfte ich als Protokollant teilhaben: auch hierbei habe ich Wertvolles gelernt.
Als das Jahr 1975 beginnt, führe ich "meine" Arolser Funkamateure (nach 1969 zum zweiten Male) zur Deutschen Welle; wir besichtigen die (damals schon computergesteuerten) Studios in Köln und die imposante Sendeanlage in Jülich - eine für mich nicht allein technische, sondern auch medienkundliche Exkursion; in Frankfurt hatten wir zuvor den Hessischen Rundfunk besucht und auf dem Hohen Meißner dessen Sendeanlage in Augenschein genommen. Was die Dialektologie angeht, so führen im April/Mai 1975 die Professoren Schmitt, Pfister uns und zahlreiche Gäste in die Ostalpen; es entstehen zahlreiche Bild- und Tonaufnahmen; letztere bringe ich, soweit möglich, auch in die persönliche Lehre ein und integriere später einige in meine Uni-Homepage. Kurz zuvor hatte unter Leitung von Prof. Reiner Hildebrandt Institutsmitglieder und Gäste nach Saarbrücken und Metz geführt und auch hier die Sprachgrenzproblematik deutlich gemacht.
Der konstant innewohnende Wettstreit technisch- ingenieurmäßiger und sprachlich-struktureller Interessen und die damals personell und institutionell unsichere Lage erschwerten eine Entscheidung dahingehend, ob und mit welchem Thema eine Habilitation anzustreben wäre. Das Faktum, gerade eine der begehrten Dauerstellen bekommen zu haben und der Plan, eine Familie gründen zu wollen, ließen mich die Möglichkeit eines kurzzeitigen Habilitationsstipendiums (mit folgender Stellen-Unsicherheit) ausschlagen; kurz darauf wurde L.E. Schmitt am Ende des WS 1975/76 emeritiert.
Wertvolle Erkenntnisse bescherte mir Anfang 1976 eine kurze, aber sehr intensive und alle Aspekte der Empirie vermittelnde Hospitation in der von Toningenieur Heinz Hopf technisch betreuten Phonetischen Abteilung des Instituts. Nie vergesse ich das Arbeiten mit den großen Telefunken-Studiomaschinen, dem Allison-Filter und dem Tempophon. Im Hauptseminar Prof. Stellmachers in Gießen referierte ich als Gast über Typen und Erforschung der deutschen Privaturkunden des 13. bis 15. Jahrhunderts und begann gleichzeitig mit der Anlage einer großen Bibliographie zur deutschen Lexikologie, in der (später enttäuschten) Hoffnung, diese mit einem Kollegen zu publizieren. Im Wintersemester 1976/77 hielt ich an der Universität Gießen vor rund 70 Hörer/innen eine Einführung in die Historische Linguistik. Das von der Uni Gießen begrüßte Vorhaben, im SS 1977 dort ein Haupt- und ein Proseminar zu halten, wurde von Marburg abgeblockt.
Meine sprachlich-strukturellen Interessen vertieften sich in der Lektüre der groß angelegten, äußerst gründlichen Syntax Otto Behaghels. Die weitere philologische Beschäftigung mit den Urkunden und der historischen Rechtssprache führte zu einem Aufsatz in der Bernhard Martin zum 90. Geburtstag gewidmeten Festschrift, wo ich mich mit populären Redewendungen (z.B. gang und gäbe) befaßte, die aus der Urkundensprache erwuchsen. Auch bestückte und betreute ich eine Ausstellung zum 100-jährigen Bestehen des Institutes, das auch in zwei Symposien gewürdigt wurde.
Ebenfalls im Jahre 1977 erfuhr meine Lehre einen entscheidenden Neu-Impuls: im neu konzipierten, erstmals von Prof. Thomas Klein geleiteten Internationalen Ferienkurs der Uni Marburg arbeitete ich erstmals als Sprach- und Literaturlehrer: 1977 gleich in der Oberstufe mit Übungen zur Literatur der deutschen Klassik: angesichts meines bisherigen Arbeitshorizontes auch dies eine besondere Herausforderung, die ich mit besonderer Freude und Genugtuung annahm: die Interpretation anspruchsvoller Lyrik und Prosa bereitet Freude und ästhetisches Vergnügen, und dies versuche ich weiterzugeben. Es folgten acht weitere Ferien- bzw. Sommerkurse (1978, 1979-1981, 1986, 1990, 1991, 1993); bereits im zweiten (1978) setzte ich unterstützend auditive Medien ein, referierte im Plenum erstmals über den Deutschen Sprachatlas und die deutschen Mundarten und konzipierte Beispieltexte aus der Lyrik von Klaus Groth.
Um theoretische Grundlagen und die bunte Vielfalt der Mundarten geht es auch auf dem 6. Kongreß der Internationalen Vereinigung für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft (IVG), der im August 1980 in Basel stattfindet und in dessen Rahmen auch ein von meinem Marburger Kollegen Dr. Kurt Kehr mitbetreuter Dialekt-Workshop uns wertvolle Eindrücke vermittelt.
Als im selben Jahr eine Kommission zum Deutschen als Fremdsprache einen entsprechenden Studienplan erstellen soll, reiche ich ein detailliertes Konzept ein; leider löst sich dieses Gremium bald auf. 1980 bildet sich ferner eine aus mir und drei weiteren DSA-Kollegen bestehende Arbeitsgruppe, die sich mit der Transkription von Tonbandaufnahmen zu einem Kleinen Deutschen Sprachatlas auf phonetischer Grundlage (KDSA-phon) befassen soll; ein anerkannter Phonetiker vermittelt uns die nötigen Grundlagen. Im Abhörraum der Phonetik arbeiten wir an Telefunken-Tonbandgeräten und -Cassettenrecordern und notieren akribisch die in teils mehreren Hördurchgängen (bei Diphthongen auch per Rückwärts-Hören) ermittelten Lautphänomene; exploratorenspezifische Differenzen sind unvermeidlich. Meine Erfahrungen auf dem Gebiete der Tonaufnahme und Gerätetechnik sowie (aktenmäßig dokumentierte) Überlegungen zur Konzeption eines Spezialtonbandlaufwerks "Transkriptor" bereicherten auch diese bis zum Frühjahr 1982 ausgeübte Tätigkeit. Mitten in diese Zeit fällt mein bisher erfolgreichster Internationaler Ferienkurs im Sommer 1981.
Parallel dazu habe ich, seit Ende 1979, mit dem Aufbau einer auditiven Mediothek begonnen und dafür bereits weit mehr als tausend Stunden an wichtigen Rundfunk- und Fernsehbeiträgen aufgenommen und archiviert. Meine methodischen Überlegungen dazu münden 1980 im Vortrag "Die auditive 'Mediothek'. Rundfunk und Tonträger im Dienste sprach- und literaturwissenschaftlicher Forschung und Lehre" (10.6., Fb 08 Allg. und germanistische Linguistik und Philologie, später auch an der Volkshochschule Frankfurt/Main). Zum Thema und nicht zuletzt aus der konstruktionellen und restaurativen Beschäftigung mit rund 80 Spulen- und 60 Cassettentonbandgeräten entstanden ist ebenfalls u.a. ein rund 500-seitiges Dossier mit Ausführungen zur Geschichte, Praxis und (z.B. Mikrofon-)Technik solcher Mediotheken sowie mit Geräte-Informationen. Sprach- und literaturbezogene Teile des Archiv-Materials kann ich in meine Lehre einbringen.
Die Lage des Institutes zwingt zu einer Neukonzeption und damit zu einer Teilung in ein Institut I und II, damit auch zu einer Neuberufung des Direktors für den Deutschen Sprachatlas I. Nach einem für mich in mancher Hinsicht deprimierenden Jahr kommt im Frühjahr 1983 Prof. Walter Haas aus der Schweiz nach Marburg; es beginnen damit dreieinhalb Jahre äußerst anregender, fruchtbarer Beschäftigung mit den deutschen Mundarten, während der ich u.a. (auch anhand von Tonaufnahmen mit eigenen Studierenden) ausgesuchte Hörproben für die zentrale Haas-Vorlesung erarbeite und aus diesen Proben später zwei vielfach verschenkte Cassetten erstelle, die auch als mediale Basis zur Führung von Schulklassen durch das Institut dienen werden. Meine ebenfalls in dieser Zeit formulierten, auch im Ausländer-Unterricht didaktisierbaren Vorschläge für "alternative Wenkersätze" finden sich hier.
Ausgehend von Lehrveranstaltungen zu Wörtern und Wendungen erstelle ich 1985 und 1986 Hörfunkbeiträge zu kulturell wichtigen deutschen Wörtern und Wendungen, die im Nordhessenjournal des HR (Studio Kassel) gesendet werden. Das Jahr 1985, das mir auch rund 90 Live-Konzertaufnahmen beschert, steht für mich ganz im Zeichen der empirischen Dialektforschung: im ehemaligen Landkreis Waldeck erhebe ich an vielen Orten (erstmals auch stereophone) Mundartproben, stelle diese auch im Hessischen Rundfunk vor und referiere im Volksbildungsring Arolsen über die waldeckischen Mundarten; eine hieraus entstandene damalige Ton-Dokumentation findet sich in meiner Homepage. Alfred Emde aus Adorf, dem ich hier wiederbegegne, hatte schon 1978 hierzu einen vergleichenden Beitrag geleistet. Die in diesen Jahren geleistete Arbeit konsolidiert einen meiner wichtigsten Schwerpunkte: die auch in die Lehre eingebrachte empirische apparative Feldforschung: hier kann ich sprachlich-Wissenschaftliches mit allen Erfahrungen auf dem Gebiet des apparativ-Ingenieurmäßigen kombinieren. 1984 trete ich dem Verband Deutscher Tonmeister (VDT) bei, besuche im Rahmen meiner Tätigkeit dessen Tagung in München und bekomme hier wertvolle Anregungen zu wissenschaftlichen und applikativen Aspekten der Tonaufnahme und -bearbeitung. Mein seitens der Medienwissenschaft begrüßtes Vorhaben, im WS 1986/87 eine Einführung in die wissenschaftliche Tonaufnahme zu halten, wird abgeblockt.
Die konstant weiterbetriebene Arbeit an Theorie und Praxis der Tonaufnahmetechnik führt mich im Oktober 1986 zum Deutschen Blindenbund nach München, wo ich auf Einladung der Deutschen Blindenhörbücherei Marburg referiere über Möglichkeiten einer Langzeit-CD für Blinden-Hörbüchereien. Kurz darauf entsteht mein Aufsatz "Digitale Sprachaufnahme? Der technische Stand der apparativen Feldforschung und Sprachdokumentation im Jahre 1987" (in: Elisabeth FELDBUSCH (Hg.): Ergebnisse und Aufgaben der Germanistik am Ende des 20. Jahrhunderts, Festschrift für Ludwig Erich Schmitt zum 80. Geburtstag)
Das Schicksal des Institutes ändert sich wiederum mit dem höchst bedauerlichen Weggang Prof. Haas' und dem von der Suche nach einem Nachfolger bestimmten, ebenso unruhigen wie ungewissen und daher perspektivlos erscheinenden Interregnum. Im Frühjahr 1987 beginnt unter meiner Leitung die noch von Walter Haas initiierte, aus seinem Forschungsetat bestrittene und seitens einer Garmischer Firma mehrjährig durchgeführte Microfichierung aller rund 40.000 Wenker-Bögen des DSA-Archivs (das auch die schweizerdeutschen Bestände einschließt). Interessent/innen des von Prof. Oepen betreuten Marburger Seniorenstudiums vermittele ich in einer Führung Einblicke in Arbeitsweisen und Bestände des Institutes. Ferner arbeite ich an der wissenschaftlichen Betreuung der damals rund 30.000 Bände umfassenden Institutsbibliothek und erstelle in diesem Rahmen u.a. eine Auswahlbibliographie zur angewandten Dialektologie und Sprachgeographie (bis 1991) - dies mit bescheidenen computativen Mitteln, denn ich habe im Frühjahr 1988 begonnen, mich intensivst mit der PC-Arbeit vertraut zu machen, und autodidaktisch viele Erfahrungen gewonnen, aus denen u.a. im Herbst 1996 ein beratender Text entsteht, nachdem ich im Rahmen meiner Personalrats-Tätigkeit (1992-2000) die beratende Überprüfung der neu eingerichteten PC-Arbeitsplätze übernommen habe. Die im Frühjahr 1988 erstellte Analyse der Technik des Cassettenrecorders als Dokumentationsgerät ist kurz darauf Grundlage eines medienkundlichen Vortrags am Volksbildungsring Arolsen.
Meine Lehre hat sich inzwischen mit zahlreichen Übungen fast gänzlich auf das Gebiet des Deutschen als Fremdsprache verlagert (in die später sogar die Flugsimulation als landeskundliches Gestaltungsmittel einbezogen wird). Den mit umfangreichstem Material belegten (und leider letzten) Sommerkurs halte ich als Lehrer der Oberstufe im Jahre 1993.
Einen wichtigen Meilenstein bildet die völlig selbständige (und ausschließlich mit eigenen Mitteln vorgenommene) Einrichtung und Gestaltung meiner Uni-Homepage Mitte Juni 1996. Hier versammeln sich alle Ergebnisse und Erkenntnisse der persönlichen Forschung und Lehre; wenn möglich, wurden alle Unterrichtseinheiten dokumentiert, beispielweise meine ab WS 2002/03 bis Dienstende (2008) gehaltene Deutsche Landes- und Kulturkunde oder die Übungsreihe zum Deutsch im 20. Jahrhundert. Auch meine Arbeiten zum Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten, zur Aufbereitung historischer Tonaufnahmen, zur Digitalisierung von Tonarchiven und zur Technologie preisgünstiger Tondokumentationen finden sich hier ebenso wie die Dokumentation zu Dietmar Seiberts Lesung aus seinem eigenen Roman, die im November 2007 eine meiner Lehrveranstaltungen ungemein bereichert.
Mit dem Beginn des Jahres 2000 gelangt unter dem genialen Visionär Jürgen Erich Schmidt das in einer perspektivlosen Dekade beinahe zum Archiv zurückgeschrumpfte Institut zu neuer Blüte und wird zu einem mächtigen, zukunftsorientierten Forschungszentrum. Die umfangreichen, von Georg Wenker und seinen Nachfolgern erarbeiteten Materialien des Deutschen Sprachatlas (Wortliste hier) werden digitalisiert und in allen Teilen und Aspekten der Öffentlichkeit per Internet zugänglich gemacht. In diese Zeit fallen meine Gedanken und Daten zur Dialektologie, meine Übungen zu den deutschen Dialekten (mit exemplarischer Mundart-Erhebung in der Schwalm) und mein Mittelseminar zur deutschen Syntax, bevor ich an der Digitalisierung der DIWA-Tonproben mitwirke und auch hier wertvolle Erkenntnisse gewinne.
Höhepunkt meiner in bescheidenem Rahmen geleisteten Forschung und Lehre war sicherlich der am 10. März 2006 auf Einladung an der Tohoku University in Sendai gehaltene Vortrag zu den deutschen Mundarten, der sich in voller Länge ebenfalls hier findet. Mit diesem Vortrag versuchte ich, alle meine bisherigen Erfahrungen und Erkenntnisse auf dem Gebiete der deutschen Dialekte zu resümieren und, was meines Erachtens neu ist, die Variation von Sprache mit der von Musik zu vergleichen - was ich nicht hätte tun können ohne meine in rund 32 Jahren und 1.300 Aufnahmen entstandenen, auch die praktisch-dialektologische Arbeit befruchtenden Erfahrungen und Versuche auf dem Gebiet der (mit teils selbst entwickeltem / gebautem Equipment durchgeführten) Live-Tondokumentation von Konzerten. Auch meinen vielen, sympathischen ausländischen Studierenden (mit denen ich teils noch heute verbunden bin) sind diese Aufnahmen zugute gekommen: seit deren Beginn (1981) eröffneten ausgewählte Proben daraus meine Lehrveranstaltungen und ermöglichten auf diese Weise einen bescheidenen Einblick in die musikalische Kultur unseres Landes und unserer Region.
Ein Fazit
Ich habe hier versucht, anhand bestimmter Daten, Ereignisse und spontaner
Erinnerungen das festzuhalten, was für mich, bis zum Auscheiden aus
dem aktiven Dienst und darüberhinaus, Erfahrung von Wissenschaft bedeutet
hat und weiter bedeutet: in einem Rahmen, der weit über die enge
Begrifflichkeit hinausgeht und der ohne den Einbezug praktischer
Umsetzung nicht auskommt. Wissenschaft ohne Lehre ist für
mich undenkbar (ich kann mir deshalb kaum vorstellen, warum
einige Hochschullehrer die universitäre Lehre als ausgesprochen lästig
empfinden und sie auf ihre Mitarbeiter abwälzen).
Wissenschaft kann und will ich einzig verstehen als eine klar und unzweideutig vermittelbare Form der Suche nach Neuem, nach Wahrheit. Ihre Erkenntnisse sollen in keiner Geheimsprache daherkommen, sondern in einer Form, die möglichst viele Menschen verstehen. Wissenschaft soll weder ins stille Kämmerlein verbannt stattfinden noch in abgeschlossenen, elitären Zirkeln, sie soll motivieren, zu eigenständigem kritischem Denken und fruchtbarem Lernen anleiten, so wie ich es selbst in bescheidenem Rahmen versucht habe, als Sohn ganz "normaler", unakademischer Eltern, in vielem überwiegend autodidaktisch lernend und aus allgemein zugänglichen Quellen.
"Wir", sage ich mal auf meine Generation bezogen, hatten es nicht so einfach wie die jungen Menschen heute, es gab weder PCs noch Internet, keine Handies, keine e-Reader, keine digitalen Datenträger und Aufnahmegeräte, und in Kleinstädten wie Arolsen keine akademischen Institutionen, allerhöchstens eine bescheidene Stadtbibliothek und / oder ein Volksbildungswerk. In den Bibliotheken saßen wir tagelang, suchten mühsam Bücher für eine Bibliographie zusammen, exzerpierten auf vielen Blättern, bis die Hand wehtat. Unsere Seminararbeiten erstellten wir ohne Copy & Paste, bescheiden und ehrlich. In den Semesterferien wurde viel ge"jobbt", für großartige Auslands-Vergnügungsreisen fehlte das Geld, nur wenige Eltern sponsorten ein Fahrzeug für ihre studierenden Kinder. Und trotzdem ging es, auch ohne akademischen Hintergrund, ohne hilfreiche Beziehungen. Es ging, wenn auch manchmal etwas verschlungen und holprig oder, wie in meinem speziellen Fall, mit widerstreitenden, ja fast gegeneinander kämpfenden Interessen, einer nicht gerade karrierefördernden Vielseitigkeit. Klar, die haben es einfach, die schon mit sechs Jahren wissen, daß sie mal Universitätsprofessoren werden, denen man jedes Hindernis aus dem Weg räumt, die deshalb mit jeder Menge Rückenwind auf dieses Ziel hinarbeiten können und dann von der Gesellschaft als absolute Senkrechtstarter, als shooting stars bewundert werden.
Die große Ehre, an einer deutschen Universität zu studieren und einen qualifizierenden Abschluß zu machen, kann jedem zuteil werden, der, ungeachtet seiner persönlichen Verhältnisse und entsprechend begabt, sich dazu aufrafft, ordentlich zu leben, in der Schule gut aufzupassen, fleißig seine Aufgaben zu erledigen und nicht aufzugeben, ganz gleich, wie es um ihn herum bestellt ist. Bildung ist faktisch für alle verfügbar, auch wenn aus propagandistischem Mund oft das Gegenteil behauptet wird.
Ich danke der Universität, aber auch persönlichen, nicht immer schmerzfreien, Lebenserfahrungen unendlich viel. Und ich möchte mit meinen bescheidenen Zeilen all diejenigen ermuntern, die trotz vieler Widerstände einen anspruchsvollen Weg gehen wollen. Denn das Konto im Kopf ist sicherer als alle Bilanzen und Versprechungen, seien sie noch so verlockend. Alles, auch das kostbarste, Hab und Gut kann in nur einer Sekunde zerstört werden, doch das, was man sich selbst erarbeitet hat an Wissen, Erfahrungen und Erkenntnissen, bleibt ein Schatz, von dem man lange zehren und den man mit anderen teilen kann.
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